: Die Frau, die sich als Einkaufstasche tarnte
■ Rebellion (keiner liebt mich): Die belgische Company Karin Vyncke in der Ufa-Fabrik
Der Anfang ist beklemmend: Eine Frau zieht an Strippen, einem Mann klappt das Hirn herunter, als wäre er aus Holz, und ein tierischer Schrei gellt durch die Ufa-Fabrik. O Grausen, welche unartikulierte Not rollt da auf uns zu? Aber bevor man noch das Weite suchen kann, ist der Horror vorbei, und der Tanz beginnt.
„Tar“ (Teer) von der belgischen Company Karin Vyncke läuft unter falscher Flagge. Die flotte Choreographie wird als ein Tanzstück angekündigt, das Motive aus der Kunst und dem kurzen Leben des Malers Jean-Michel Basquiat transformiert. Die Legende vom Leben auf der Straße, wo ein Pappkarton oder Einkaufswagen zu wertvollem Besitz werden, hat Vyncke aufgegriffen.
Aber die Beschäftigung mit den Randzonen des urbanen Lebens bleibt ausgestellt, ohne tiefer in die Choreographie einzudringen. Zwar hat die Company einige groteske Bilder aus dem Müll geklaubt: von dem Mann, der sich mit klebrigen Fliegenfängern im Mantel einschnürt, und der Frau, die sich als Einkaufstasche auf Rädern tarnt. Doch dies bleiben Einsprengsel in einem ruppigen und kantigen Tanz, dem mehr zu sein nicht gelingt. Der soziale Teufelskreis von Aggression und Zurückweisung, von dem der Tanz handeln will, wird zu glatt in Bewegungsimpulse übersetzt. Als ob man sich in einer Bandenszene aus einem Musical à la Westside Story befände, rollen Rebellion und Einsamkeit weiter und weiter, nicht einmal besonders gut getanzt. Die Musik von Nicolas Roseeuw, melancholisch, narrativ, voll verfremdeter Tanzrhythmen und dramatischer Akzente, hält die Maschine in Gang.
Die Physis des Zuschauers unmittelbar zu erschüttern galt eine Zeitlang als spezielle Qualität des flandrischen Tanztheaters. So fehlt auch in „Tar“ nicht der kalkulierte Schock, die Szene zum Gruseln, in der eine Tänzerin ihren Partner wie einen nassen Sack walkt und knetet, an seiner Haut zieht, zerrt und faltet, als wolle sie ihm Taschen hineinnähen. Quälende Geigentöne begleiten die Übung, die hart an der Schmerzgrenze entlangschrammt. Sie wirkt wie eine Drohung, eine Vorführung der Instrumente, wie man den Zuschauer wirklich foltern könnte; eine überzeugende Notwendigkeit im Stück fehlt ihr dagegen.
Manchmal gelingen der Gruppe auch Szenen, die unmittelbar aus der gemeinsamen Bewegung emotionale Stärke entwickeln: Wenn sie kurz vor Schluß das Zittern, Ruckeln und Rütteln von Autisten und Alkoholikern überfällt, meint man, diese verlorenen Körper umarmen und festhalten zu müssen. Dann aber taucht, wohl als Bild der Gefährdung bis in den Tod hinein gemeint, eine Messerwerferin auf, und alles wird wieder ein wenig lächerlich.
Die 1987 gegründete Company Karin Vyncke, die „Tar“ als eine Koproduktion mit der Ufa-Fabrik entwickelte, gehört zum flandrischen Tanzwunder, das vor allem mit dem Gruppen von Wim Vanderkybus und Ann Teresa de Keersmaeker bekannt wurde. Nicht nur mit Förderung unterstützt Flandern seine Gruppen, sondern ernennt sie auch zu „Kulturbotschaftern“ des Landes. Das hat etwas Rührendes: Man verzeiht den bösen Kindern, daß sie auf der Häßlichkeit der Welt bestehen. Denn vor dieser dunklen Folie hebt sich die Suche nach wahrer Menschlichkeit um so strahlender ab. Katrin Bettina Müller
Mi.–So. 20.30 Uhr, bis 25.1.
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