: In den Katakomben Amerikas
Der US-amerikanische Rocktheoretiker Greil Marcus über Bob Dylans „Basement Tapes“: Karriereweg vom Außenseiter zum Staatskünstler oder Wie sich im Keller einer Holzhaus-Remise in der Nähe von Woodstock das mythische Erbe der Pioniere manifestierte ■ Von Thomas Groß
Und der Prophet gilt doch etwas im eigenen Land. 1997, im 35. Jahr seiner Karriere, sang Bob Dylan nicht nur für den Papst, er war bekanntlich auch Ehrengast beim Präsidenten. Für die „vielleicht einflußreichste und andauernd bestechende Präsenz in der amerikanischen populären Musik und die herausragendste als Songwriter unserer Zeit“ erhielt er in Beisein Bill Clintons den Kennedy-Kulturpreis. Daß auch Charlton „Ben Hur“ Heston, glühender Waffenlobbyist und Wahlkämpfer für die Republikaner, zu den Preisträgern gehörte – Schwamm drüber. Kein Tagesgezänk, wenn Amerika seine Helden ehrt.
Kaum mehr wahr schien bei so viel Love and Peace auf höchster Ebene, daß derselbe Bob Dylan vor drei Jahrzehnten auf der Bühne stand und als „Judas“ ausgebuht wurde. Es war 1967, ironischerweise der sogenannte Sommer der Liebe, tatsächlich das Jahr, „als Amerika auseinanderfiel“, wie der Law-and-order-Politiker Newt Gingrich sich erinnert: der Anti-Vietnam-Protest auf dem Höhepunkt, die Gegenkultur in Explosion begriffen, kein Stein mehr würde auf dem andern bleiben – von den Blumen im Haar zu schweigen. Die Rechten haßten Dylan, weil sie ihn sowieso haßten, seit er mit „Masters Of War“ und „Only A Pawn In Their Game“ der Bürgerrechtsbewegung einige Hymnen mit auf den Weg gegeben hatte. Die Linken haßten ihn neuerdings, weil er die puristische Folkie-Kluft abgelegt hatte und mit modischer „Verräterjacke“ elektrische Musik machte.
Archetyp des reisenden Predigers
Ausgerechnet in dieser Situation beschloß der Mann, der sich Bob Dylan nannte, die Zeit totzuschlagen. Mit einigen Kumpanen des engeren Zirkels zog er sich in ein Holzhaus in der Nähe von Woodstock zurück, um von morgens bis abends nur Drogen zu nehmen und Spaß zu haben – und Spaß haben hieß für Leute dieses Schlags natürlich zugleich, Musik zu machen. Eine „Fabel über Rückzug und Kreativität“ nennt Greil Marcus in seinem jüngsten Buch das Ergebnis: Direkt im Anschluß an retrospektiv als Meisterwerke gehandelte Alben wie „Subterranean Homesick Blues“ oder „Highway 61 Revisited“ entstand ein Songzyklus, der erst 1975 unter dem Titel „The Basement Tapes“ (teilweise) offiziell veröffentlicht wurde. Als Aufnahmen, die tatsächlich wie metaphorisch im Keller der Dylanschen Remise entstanden, sind sie für Marcus der eigentliche unterirdische Heimweh-Blues, ein Wühlen in den „katakombischen Archiven des Utopischen und Morbiden, die unterhalb der amerikanischen Highways aus praktischem Unternehmertum und offenkundiger Bestimmung liegen“.
Marcus, noch immer der führende US-amerikanische Rocktheoretiker, gräbt tief, findet aber weniger Wurzeln als immer neue Verflechtungen. In den Stücken, die Dylan mit seiner später als The Band bekanntgewordenen Begleitcombo teils neu interpretierte, teils frei improvisierte, verfolgt er Spuren, die über die Große Depression der zwanziger Jahre ins 19. Jahrhundert oder sogar die Gründerzeit der Vereinigten Staaten reichen. Das „alte, unheimliche Amerika“ (Marcus) wird wachgerufen. Wenn der Sänger beschwörend von Feuerrädern singt, die sich wie ein Strafgericht die Straße hinabwälzen („This Wheel's On Fire“), wenn er in der Maske eines Reisenden auftritt, der am liebsten unerkannt bliebe („Lo And Behold!“), wenn er in einem „Clothes Line Saga“ betitelten Stück wie aus den Mundwinkeln heraus Alltäglichkeiten über Wetter, Wäsche und Wäscheleinen quengelt, knüpft er an archetypische amerikanische Figuren an: den Prediger, das Pokerface, den Mann aus dem Mittleren Westen, der seine Rede auf magische Weise harmlos hält, weil er spürt, daß das Land, das er besiedelt, auf Gewalt gegründet ist, und weil jeder Fremde dein Feind sein kann.
Gespenstergespräch in Montagetechnik
Die Maske, zitiert Marcus die Autorin Constance Rourke, ist das „tragbare Erbstück, das uns die Pioniere hinterlassen haben“: Auf archaischem Terrain lebt es sich am ungefährlichsten, wenn man Niemand heißt – und auch so wirkt. Doch das Gewaltsame verschafft sich im kaum durch Gesetze gebändigten Land ebenso Sprache wie das in der Unabhängigkeitserklärung gegebene Versprechen auf Freiheit und Individualismus, noch heute jährlich am „4th day of July“ erneuert. Über Figuren, Momente, Begebenheiten rekonstruiert Marcus eine Art zweites Gesicht Amerikas, ein mythisches Bewußtsein, dem eine spezifisch amerikanische Erzählweise entspricht. Sie findet sich bei Poe, Melville, Faulkner, in den Westernlegenden von Pat Garrett und Billy The Kid, aber auch und vor allem im Blues der Schwarzen und in den Folkerzählungen der landesweit verlachten Bevölkerung der Appalachen, der Hillbillys. Die Mythologie dieser Musik, hat Dylan selbst einmal kommentiert, sei unter ihrer primitiv wirkenden Oberfläche niemals einfach, ihre Ursprünge finde man „in Bibeln, in Pestepidemien, und sie kreist um Gemüse und Tod“. Vererbt wurde sie weniger auf offiziellem Wege als über die Initiative von Eigenbrötlern und Spinnern wie etwa dem verkrachten Studenten Harry Smith, der mit seiner „Anthology Of American Folk Music“ – sie sammelte erstmals im O-Ton die versprengten Stimmen vergessener Sänger wie Frank Hutchison, Blind Lemon Jefferson oder Dock Boggs – eine Art akustische Bibel der Folkbewegung zusammenstellte. Mit diesen Stimmen, deren Tonfall er in- und auswendig lernte, hat Robert Allen Zimmerman in den frühen Sechzigern seine Karriere als Folksänger namens Bob Dylan begonnen, zu ihnen kehrte er in der Krise zurück, indem er sie in jenem Keller in den Catskill Mountains quasi aus der Luft griff. Es ist ein Versuch, innezuhalten und zurückzublicken, ein Gespenstergespräch, das Dylan und The Band mit den düster-romantischen Traditionen ihres Landes führten, und Marcus – selbst mehr Geschichtenerzähler und Montagetechniker denn abstrakter Analytiker – hat an der Beschwörung teil. Das kommt nicht ohne ein gewisses Raunen aus: Marcus, der selbsternannte Evangelist, liest der Gemeinde die Apokryphen. Sein Buch über die Basement Tapes ist über die Figur „Dylan“ hinaus eine poetische, teils pathetische Rehabilitierung der „primitiven Modernen“ – jener ländlichen Gestalten und Bluesexistenzen, die von der offiziellen Kultur über Jahrzehnte nahezu vergessen waren, in Marcus' Augen aber das eigentliche Personal des weiten Landes darstellen.
Doch da ist noch etwas anderes, etwas, das auch Marcus allenfalls andeutet: „Strange Things Happening“ – ein Titel der Sängerin Sister Rosetta Tharpe –, erwähnt er an einer Stelle, sei in derselben Woche an die Spitze der Charts für schwarze Musik geklettert, in der Hitler Selbstmord begangen hatte, nämlich am 30. April 1945. Welch seltsame Koinzidenz! Und warum wird sie herbeizitiert? Man kann es nur auf seinerseits verschlungenen Wegen verstehen – indem man sich klarmacht, daß hier ein Nachfahre deutsch-jüdischer Emigranten am Leitfaden eines jüdisch-amerikanischen Sängers in einer Montagetechnik schreibt, die viel der Schreibweise eines deutschen Juden verdankt, der auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord beging: Walter Benjamin.
Ahasver unter den Songwritern
Von Benjamin übernimmt Marcus den Blick auf die unterdrückte Seite der offiziellen Geschichte, die Betonung des Augenblicks, die Idee einer Verabredung zwischen den Generationen: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei“, schreibt Benjamin in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“; es gehe darum, „der Nachwelt eine gerade noch wahrnehmbare Spur einer vergessenen Geschichte zu hinterlassen“, schreibt Marcus. Der Identifikation mit den Blues- und Folkleuten – Migranten oft im eigenen Land – liegt eine tiefere Identifikation mit dem Schicksal der deportierten Juden zugrunde, deren Leiden (u.a.) die USA ein Ende bereitet haben. Was Marcus über die historische Zeugenschaft der „Basement Tapes“ schreibt, gilt also genauso für ihn selbst: „Man würde bezeugen, daß eine bestimmte Spezies von Menschen von der Erde verschwunden war, und dadurch würde man gleichzeitig bezeugen, daß es diese einmal gegeben hatte.“
Freilich hat Marcus' pathetische Beschwörung des besseren Amerika und seiner „unverfälschten roten Erde“, 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und mit lauter amerikanischen 67ern an der Macht, auch einen Drall ins Affirmative – zumal da die Helden müde werden und Rock'n'Roll, der legitime Erbe des Blues, immer klarer zur geschichtlichen Siegerseite hin tendiert. Aus den ehemaligen Außenseitern werden Staatskünstler. Marcus (52) sieht Dylan (56) als eine Art amerikanischen Goethe, einen Universalkünstler und Klassiker des „Land of the Free“.
Klassiker aber pflegen ganz offiziell ins nationale Kulturerbe heimgeholt zu werden – und mitunter lassen sie es sich sogar ganz gern gefallen. Im Kennedy-Center hat Dylan, das Pokerface, der Ahasver unter den Songwritern, bei seiner Ehrung jedenfalls wenig Anstalten zur Gegenwehr unternommen. Wenn der Sänger sich abwandte, so geschah es hinter vorgehaltener Maske.
Greil Marcus: „Kuckucksrufe. Bob Dylans Basement Tapes oder Das alte, unheimliche Amerika“. Deutsch von Fritz Schneider. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1998, 287 S., 25 DM
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