Dezenter Dauerrausch

Grundsolide und patinös charmant – die eine, schneller, kürzer, besser – die andere: zwei Tschechow-Inszenierungen  ■ Von Eva Behrendt

Das Weihnachtsmärchen im Theater ist eine schöne Sitte – nur leider meistens bloß für Kinder. Erwachsenen werden solche Jahresend-Erbaulichkeiten vorenthalten. Doch jetzt stehen zwei neue Tschechow-Inszenierungen auf dem Berliner Spielplan, die beide das verlorene Weihnachtsmärchen ersetzen könnten. Väterchen Frost is back in town.

Nicht nur auf den ersten Blick begegnet die DT-Baracke Tschechows „Iwanow“ mit einer Übererfüllung werktreuer Erwartungshaltungen. Die Bühne (Stephan Fernau) wurde in den Garten hinaus verlängert, so daß der Zuschauer auf drei Räume hintereinander blickt: Salon, Verandazimmer und das verschneite Draußen, wo den AkteurInnen der Atem vor den Mündern zu kleinen Wölkchen gefriert. Über Sofas, Samowaren, gutsherrlichem Nippes und ebensolchen Kostümen liegt der patinöse Charme des 19. Jahrhunderts. „Nikolai Alexejewitsch“ (Iwanows Vorname) „nach Tschechow“ zu spielen weckt dabei den Eindruck, daß hier frei mit Autors Vorgaben jongliert wird. Jongliert wird aber höchstens schauspielerisch in den wichtigen Nebenrollen: Erhard Marggraf (Lebedev) im dezenten Dauerrausch, Dieter Mann (Graf Schabelski) als menschelnder Misanthrop und Jule Böwe in der Rolle der meisterlich verkrampften Jung-Witwe Babakina, deren affektierte Posen als Zahlenkombination eines Tresors funktionieren. Ernst Stötzner als Iwanow, Simone von Zglinicki als dessen Frau Anna und Linda Olsansky als Geliebte Saschas haben es in den tragischen Hauptrollen schwerer, denn hier zeigt sich der Übergang von gespielter zu echter Langeweile als fließender. Mit seiner dreistündigen Inszenierung setzt der ukrainische Regisseur Valeri Bilchenko auf grundsolides Schauspieler- und Sprechtheater – mit sparsamem Einsatz von Phantasie und ohne den Versuch, eine Aktualität zu behaupten. Letzteres braucht es allerdings nicht unbedingt, denn oft erwischt einen Tschechow zeitlos zeitgemäß: Wer nichts mehr projezieren kann, erstickt an Langeweile. Daß Iwanow, der verzweifelte Mittdreißiger in der selbstreflexiven Schleife, sich am Ende erschießt, bleibt ein Zugeständnis ans Theater und ans 19. Jahrhundert, in dem die Pistolen noch zum Hausgebrauch in jeder guten Stube lagen. Doch darauf kommt es nicht an. Psychologischer Realismus hat den Vorteil, daß man in Ruhe hinschauen kann und zuhören muß: dem analytischen Jammern, Resümieren, nach Erklärungen Fahnden, Überreden, Streiten und mit Zynismen Kontern. Eine Sprachkultur wird aufgezeigt, die sich schon vor 100 Jahren an ihr signifikantes Ende geritten hatte, und an der bis heute unverbesserlich herumlaboriert wird. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

„Werktreue ist Faulheit“, behauptet dagegen das Orphtheater mit Fritz Kortner im Programmheft zur Tschechow-Compilation „In Antons Garten“. Das Projekt hat etwas vom Schneller-Kürzer- Besser, denn in eineinhalb Stunden erhält der Kunde in den Sophiensälen drei Tschechow-Dramen plus Bonustrack. Auch das Orphtheater macht vor russischer „Atmosphäre“ nicht halt, treibt jedoch die vertrauten Accessoires wie Samowar, Fellmütze und Wodkaflasche ins surreal Verlotterte. Die aggressiven Striche, denen alles zum Opfer fällt, was bei Tschechow redundant, gemächlich, kreisend kommt, enthüllen und verdecken zugleich das Handlungsgerüst der Dramen und fügen der latenten dialogischen Komik noch ein absurdes Moment hinzu. Alles könnte schrecklich albern und ein rüpelhafter Affront gegen eingeschworene Tschechow-Liebhaber sein, wenn nicht im Spiel sowie der Bezüglichkeit der drei Stücke aufeinander eine Neuentdeckung Tschechowscher Qualitäten erschiene.

Zum einen implodiert das neurotische Gebaren der Figuren zu ausgesprochener Hysterie. Auch ohne das Tempo über Gebühr zu forcieren, brennt bei Antje Görner, Kathleen Monden, Christian Kleinert, Uwe Schmieder und Wolf Scheidt mit beinahe jedem Satz eine Sicherung durch. Zum anderen erzählt der Schauspieler Matthias Horn in seinem Regie- Debüt die Geschichte einer verkehrten Regression: „Auf der langen Straße“ als existentielle Situation von fünf Gestalten kurz vor dem Erfrierungstod, im „Iwanow“ ein lethargisch-dekadentes Liegestuhl-Panorama, im „Kirschgarten“ exaltierte Infantilität, Leichtsinn und Amüsement – während schon absehbar ist, daß die Welt zusammenbrechen wird. Das letzte, stumme Bild zeigt die Schauspieler als Kinder reicher Eltern, die ihr Spielzeug erst bedienen, die Spielregeln erst erlernen müssen. Nur noch als Schattenriß aufgereiht wie die Bremer Stadtmusikanten, erstarren sie schließlich unter Theaterschnee. Richtig wäre die Reihenfolge umgekehrt gewesen, doch so ist sie richtiger: das große Thema „Schuld“ einmal andersrum – am Ende etwas didaktisch, aber schlüssig und tröstend. Ein Weihnachtsmärchen eben.

Weitere Termine: „Nikolai Alexejewitsch“, DT-Baracke, 12. und 13., 22. und 23. 12., 20 Uhr; „In Antons Garten“, Sophiensäle, 11. und 13., 16. bis 20. 12., 20 Uhr