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Langsam auftauen im sibirischen Exil

An der Fachhochschule für Sozialarbeit endet das erste Semester im Plattenbaubezirk Hellersdorf. Während die Studenten noch zwischen Distanz und Pragmatismus schwanken, fiebern viele Professoren jetzt der Rente entgegen  ■ Von Ralph Bollmann

Von ihrem neuen Arbeitszimmer aus kann Christine Labonté- Roset malerische Sonnenuntergänge beobachten. Was sie sonst noch sieht, findet die Professorin für Sozialpolitik weniger romantisch: eine Hauptverkehrsstraße samt Straßenbahn, einen noch unfertigen Platz, den abwechselnd parkende Autos, ein Riesenrad oder eine Eisbahn füllen. Zur Rechten Neubauten im sachlichen Stil der Postpostmoderne, zur linken Plattenbauten, so weit das Auge reicht. „Wenig urban“ findet sie das Ambiente derzeit noch.

Ginge es nach der Rektorin, dann residierte sie samt ihrer Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ASFH) noch immer in jenem Schöneberger Altbau, in dem die Namenspatronin 1908 die „Soziale Frauenschule“ gegründet hatte. Auf ihrem Schreibtisch hat Labonté-Roset ein Foto liegen, das sie in ihrem früheren Arbeitszimmer zeigt, mit Ausblick „ins Grüne, auf Bäume“. Dahinter die Schöneberger Straßen, in denen sich ein Gründerzeitbau an den anderen reiht und ein Café ans nächste.

In dieser Woche geht das erste Semester zu Ende, das die ASFH an ihrem neuen Quartier im Ostberliner Plattenbaubezirk Hellersdorf verbringt, rund eine Stunde S- und U-Bahn-Fahrt von der Innenstadt entfernt. Noch immer denken die meisten Professoren und Studenten wehmütig an Schöneberg zurück. Zwar rühmen alle die größeren Räume, die ihnen das Land für fast 40 Millionen Mark errichten ließ, der frühere Rektor Reinhart Wolff spricht gar von der „größten und schönsten Fakultät für Sozialarbeit in Europa“. Doch erst langsam schwindet das Gefühl, vom früheren Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) nach „Sibirien“ verfrachtet worden zu sein.

Als der Senat 1992 beschloß, die Hochschule solle neben der Bezirksverwaltung und zwei Einkaufspassagen das neue Hellersdorfer Stadtteilzentrum beleben, stimmten 90 Prozent der Hochschulmitglieder in einer „Urabstimmung“ gegen den Umzug. Rektor Wolff, der sich dem Protest nicht anschloß, wurde zwei Jahre später nicht wiedergewählt. Seine Nachfolgerin Labonté-Roset hingegen weigerte sich noch bei der Grundsteinlegung 1995, zum Hämmerchen zu greifen. Sie gab die Parole aus, Sozialarbeit gehöre „ins Zentrum der Stadt“.

Ein Argument von zweifelhafter Überzeugungskraft. Niemand bestritt, daß die Hochschule nicht im kleinen Schöneberger Altbau bleiben konnte. Erste Pläne zu einem Umzug nach Spandau hatten weit weniger Entsetzen ausgelöst. Die Professoren, meist aus der Generation der 68er und heute im Besitz einer Eigentumswohnung in Charlottenburg oder Schöneberg, standen prompt als notorische Wessis da.

Doch der Widerstand war zwecklos. „Ich gehe dahin, wo mein Dienstherr mich hinversetzt“, sagt eine Hochschullehrerin jetzt fatalistisch, „aber kein Hochschullehrer wirft wegen des Umzugs seine Lebensplaung über den Haufen.“ Zwischen dem heimischen Charlottenburg und Hellersdorf zu pendeln, „das halten wir die fünf Jahre bis zur Pensionierung auch noch durch“.

„Für die jetzige Generation von Hochschullehrern wird das nichts mehr“, glaubt auch ein Kollege. Schon die S-Bahn-Fahrt sei „ätzend, da können Sie höchstens soziale Studien betreiben“. Mit den Neubauten im Hellersdorfer Zentrum seien „den alten seelenlosen Strukturen der DDR bloß die neuen seelenlosen Strukturen des Kapitalismus übergestülpt worden“. Trotzdem will der Professor im Wege der „teilnehmenden Beobachtung“ den Stadtteil erforschen und dabei auch erfahren, „ob die Sozialhilfeempfänger das so gut finden, daß uns hier der rote Teppich ausgerollt wird“.

Tatsächlich hat der Bezirk alles getan, um den quengelnden Sozialarbeitern den Umzug zu erleichtern, von einem Runden Tisch zur Gewaltprävention bis zur Namensgebung des zentralen Alice-Salomon-Platzes. Bürgermeister Uwe Klett (PDS) hofft auf studentisches Leben im Bezirk, auf „Jugendliche, die auch eine Reibungsfläche bieten“ – auch wenn er weiß, daß er die Studenten „nicht verpflichten kann, den ganzen Tag in Hellersdorf zu verbringen“.

Tatsächlich sind die meisten „froh, wenn sie hier weg sind“, glaubt die Studentin Daniela Teichert. Doch habe der Neubau auch Vorteile: „Man kann nicht abhauen. In Schöneberg sind die Leute in den Cafés verschwunden, hier kommt man leichter ins Gespräch.“ Auch wenn sie sich selbst erst allmählich mit Hellersdorf anfreunden – über das „Sibirien“- Vorurteil vieler Dozenten mokieren sie sich jetzt schon.

Der Student Aypel Sönmezcicek berichtet, er sei in der U-Bahn angepöbelt worden, wie er sich „als Kanake solche Garderobe leisten“ könne. Auch in den Geschäften habe er „das Gefühl, daß sich die Leute abweisend verhalten“. Trotzdem empfiehlt der Steglitzer anderen Westberlinern, „mal nach Hellersdorf zu fahren. Schließlich wirkt man auch auf seine Umwelt.“ Auf die neue Umwelt einzuwirken, das hat sich auch Rektorin Labonté-Roset vorgenommen. Schließlich sei Hellersdorf „der Bezirk, der das meiste Geld in Sozialarbeit steckt. Wir können gar nicht alle Anfragen nach Zusammenarbeit befriedigen.“

Immerhin: Bei den jüngsten Gremienwahlen stimmte die Mehrheit der Professoren für die Liste „Neu beginnen“ der Umzugsbefürworter um den früheren Rektor Wolff. Die Skeptiker, so ist zu hören, wollten am Wahltag nicht eigens nach Hellersdorf fahren. „Es gibt natürlich auch Kollegen“, sagt Wolff, „die nach wie vor jammern und mit nichts zufrieden sind. Das lösen wir nicht mehr.“

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