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Warum die Debatte weitergehen muß

■ 50 Jahre danach redet man weltweit über die Entschädigung jüdischer Opfer. Dabei sollte es weniger um Geld als um Gerechtigkeit gehen

Fünfzig Jahre lang begnügte sich die Weltöffentlichkeit mit einer vereinfachenden, manichäischen Darstellung der Tragödie des jüdischen Volkes, die sie vom Vorwurf der Mitwisserschaft und Tatenlosigkeit freisprach. In den Nürnberger Prozessen standen ranghohe Vertreter des Naziregimes für Kriegsverbrechen vor Gericht. Eingeschlossen waren auch die Verbrechen in Konzentrations- und Vernichtungslagern und die Plünderung der besetzten Staaten. Da jedoch der eigentliche Völkermord kein Thema war, geriet die Frage nach „legaler“ oder illegaler Beschlagnahmung jüdischen Besitzes völlig in den Hintergrund. Erst jetzt, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde die Frage nach dem beschlagnahmten Besitz wieder aktuell. Eine Enthüllung folgt der nächsten, und es tritt immer deutlicher zutage, daß nicht nur die Nazis an den Beutezügen beteiligt waren. Auch die Alliierten hatten ihre Hände im Spiel. Und selbst die damals vorgeblich neutralen Länder mischten mit, insbesondere die Schweiz.

Unter dem Druck der USA – und sicher nicht um der Interessen der Opfer willen – mußten die Schweizer Regierung und einige Schweizer Banken erstmals Akten über die geraubten Vermögen zugänglich machen, angefangen bei den sogenannten nachrichtenlosen Konten. Aufgrund dieser „Entdeckung“ griff man nunmehr weltweit die Frage nach dem beschlagnahmten jüdischen Besitz auf. Das Interesse der Medien konzentriert sich auf jüdisches Gold, auf Kunstwerke und Bankkonten. Und einmal mehr tauchte das ewige antisemitische Phantasma vom reichen Juden auf.

Das Engagement der US-Amerikaner zeigt, daß ihnen die Geschichte an sich vollkommen gleichgültig ist. Was zählt, ist Effizienz: Es kommt darauf an, in kürzester Zeit soviel Geld wie möglich loszumachen. Ich wage zu bezweifeln, daß dieses Vorgehen wirklich im Interesse der Opfer ist. Denn der von US-Amerikanern dominierte Jewish World Congress führt zwar die Verhandlungen mit den Schweizer Banken, aber er kann nicht für alle Opfer sprechen. Dennoch beansprucht er mit 50 Prozent den Löwenanteil der Entschädigungszahlungen. Die amerikanischen Anwälte kassieren Millionen Dollar, und was bleibt für die Opfer? Pro Person höchstens einige hundert Dollar. Diese Verhandlungen werden im Namen der Gesamtheit der Opfer geführt, aber die meisten der Überlebenden leben außerhalb der USA. Und für Europa, wo das Drama stattfand, sieht das Abkommen gar nur 20 Prozent der Beträge vor. Diese Ungerechtigkeit wiederholt sich nun mit dem „Nazigold“ – die von den West-Alliierten beschlagnahmten Goldreserven der Nazis – von dem noch etwa 20 Tonnen übrig sind. Dieses „nichtmonetäre“ Gold ist größtenteils Zahngold, das den Opfern der Schoah herausgebrochen wurde, und auch dies geht heute nicht ausschließlich an die Opfer. Am schlimmsten aber ist, daß das Abkommen einige Klauseln enthält, die schlichtweg nicht hinnehmbar sind.

Noch bevor die Untersuchungen der Verbrechen und der Schuldfrage abgeschlossen sind, treten die Beraubten mit den Hehlern in Verhandlung und einigen sich über die Höhe der Entschädigungszahlungen. Und im Fall der Schweizer Fonds weigert die Bankengemeinschaft sich, von Restitution zu sprechen, und schlägt eine Entschädigungspauschale für alle Opfer vor. Wer als Opfer anerkannt wird, hängt von den Kriterien der Bank ab, und merkwürdigerweise sind diese Kriterien an die aktuelle soziale Situation der Opfer gebunden. Hier werden verschiedene Rechtsansprüche über einen Kamm geschoren, unabhängig vom erlittenen Unrecht. Schlimmer noch: Die Opfer müssen sich im Gegenzug verpflichten, keine eigenen Archiv-Untersuchungen mehr anzustellen und auf ein späteres gerichtliches Vorgehen zu verzichten.

Was danach folgte, war eine weltweite Jagd auf ehemaligen jüdischen Besitz, eine widerwärtige Jagd auf „Reparationsgelder“. Die Vorstellung vom unermeßlichen jüdischen Reichtum geisterte wieder durch die Welt. Das ging so weit, daß einige Zeitschriften sich zu fragen wagten, mit welchem Recht die Juden dieses Gold für sich beanspruchen und ob dieses Gold überhaupt ehrlich erworben worden sei. Das weckt Neid. Andere Opfer treten auf und fordern ihren Anteil. So hat sich das russische Parlament jüngst einstimmig dagegen verwahrt, daß lediglich die Juden eine Entschädigung erhalten, wo doch das russische Volk viel mehr gelitten habe. Auch der französische Verband der Deportierten, mehrheitlich nicht jüdisch, fordert nun seinen Anteil.

Es herrscht Verwirrung, denn plötzlich stellen alle Opfer des Nazi-Regimes ihre gerechtfertigten Forderungen: Ehemals Deportierte, die bis zum heutigen Tage keine Entschädigung erhalten haben, Ost-Zwangsarbeiter, die zur Arbeit im Reich und in Osteuropa gezwungen wurden, Opfer des Reichsarbeitsdienstes etc.

Die deutschen Firmen, die von den KZs profitierten, versuchen heute, eine Art Gentlemen's Agreement“ abzuschließen. Hier wird die Verschleierung gerade erst bekanntgewordener Kapitel der NS- Geschichte befördert – alle Forderungen sollen beglichen werden, damit man einen Schlußstrich ziehen kann. Aber streng genommen hat das alles nichts mit der eigentlichen Beschlagnahmung des jüdischen Besitzes zu tun. Die Beschlagnahmungen resultierten aus der antisemitischen Politik des Hitler-Staates. Dieser Staat hat den Juden die Ausübung ihrer Berufe untersagt, ihnen jeglichen Besitz verboten und sie in Armut und Not gestürzt. In allen Ländern, die Hitler überfiel, war die „legale“ Beschlagnahmung jüdischen Besitzes eine vordringliche Maßnahme.

Frankreich allerdings war ein Sonderfall. Die damalige Regierung Petain, nach der bitteren Niederlage vom Sommer 1940 ganz regulär an die Macht gekommen, verkündete umgehend eine antijüdische Politik und begann, jüdischen Besitz zu beschlagnahmen. Die französische Verwaltung mußte einen Teil der „Beute“ an die deutschen Okkupationstruppen auszahlen, und das Einsatzkommando Rosenberg plünderte, wie in ganz Europa, skrupellos die französischen Kulturgüter. Dennoch bemühte sich die französische Regierung eigenständig und mit 109 Gesetzen, jegliche jüdische Beteiligung an der nationalen Ökonomie zu unterbinden. Die autonome antisemitische Politik führte zu Spannungen mit der deutschen Besatzermacht, die eine „Arisierung“ des jüdischen Besitzes zum eigenen Nutzen anstrebte. Die Vichy-Regierung, die ansonsten allen deutschen Forderungen nachgab, kämpfte mit allen Mitteln um das Monopol auf die „Arisierung“ jüdischen Besitzes und konnte sich schließlich gegen Berlin durchsetzen.

Es ist es verständlich, daß Frankreich mehr als fünfzig Jahre brauchte, um seine Verantwortung anzuerkennen. Eine Konsequenz aus dieser Anerkennung ist die Gründung des Mattéoli-Ausschusses, der die Schätzung des vom französischen Staat beschlagnahmten jüdischen Eigentums zur Aufgabe hat. Im Dezember 1999 soll der Abschlußbericht erscheinen, doch sind inzwischen zwei Zwischenberichte veröffentlicht worden, die eine vorläufige Bilanz liefern. Der Grundtenor dieser Berichte lautet, daß die französischen Beschlagnahmungen so schlimm nicht waren, daß bereits mehr zurückgegeben wurde, als man dachte, und es wenig Sinn habe, die unbedeutenden Restbestände nun zurückgeben zu wollen. Immerhin aber hätte es den Sinn, Teil des kollektiven Gedächtnisses zu werden, wie Premierminister Jospin und Henri Hajdenberg, Präsident des CRIF (Rat jüdischer Institutionen), vorschlagen. Ansonsten würden die Opfer mit ihrem Geld für eine Erinnerung bezahlen, die ein Frankreich, das seine Schuld eingestanden hat, selbst zahlen sollte.

Man ist dabei, die Opfer und ihre Nachkommen ein zweites Mal zu berauben. Sie wollen keine Almosen, und ich denke, sie wollen auch kein Geld. Sie verlangen, daß ihnen Gerechtigkeit zuteil wird, daß ihre Geschichte endlich vollständig geschrieben wird, in ihrer ganzen Gemeinheit und Grausamkeit. Sie wehren sich gegen „Arrangements“, die eine Vergewaltigung der Geschichte bedeuten. Die Tore der Geschichte, die sich gerade erst einen Spalt breit geöffnet hatten, sollte man nicht brutal wieder schließen. David Douvette

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