: Salto mit Schnörkel
■ Akrobaten aus Frankreich am Trapez und auf dem Seil im Zelt am Anhalter Bahnhof
Das „Theater der Welt“ geht, der Zirkus kommt. Zugleich mit dem letzten Spektakel des Theaterfestivals wurde in einem Zelt am Anhalter Bahnhof (in diesem und im nächsten Sommer Ersatz für das geschlossene Tempodrom) das Programm „temporaire“ eröffnet. Seiltänzer, Luftspringer und Musiker kamen als erste Gäste des Cirque Noveau, um eine in Frankreich beliebte Mischung aus Theater und Zirkus vorzustellen.
Zum Zirkus gehört ein Programmheft. Das stellt im Fall des Cirque Noveau mindestens ebenso viele Veranstalter vor (von den Festspielen bis zum Institut Français) wie Artisten. Auch aus einer fetten Pressemappe erfährt man mehr über das Werbekonzept als über die beteiligten Künstler. In einen ebensolchen Wasserkopf aus Schnörkeln und nostalgischen Zirkusbildern sind dann leider auch die Pirouetten auf dem Seil und die Saltos am Trapez eingepackt. Die Momente der Atemlosigkeit, man geizt mit ihnen. Nur der Musiker Carl Schlosser, der den Zirkustusch in Free-Jazz-Manier zerstückelt und auf dem Saxophon in die Höhe treibt, zieht unentwegt am Tempo.
Armer Zirkus. Der Wille zur Kunst läßt die bloße Lust an der Sensation nicht gelten, und so haben die Bilder etwas zu bedeuten: Nicht mehr allein der Körper darf hier sprechen, sondern die Seele wird gesucht. Der Tanz über das Seil, um den die beiden Seiltänzer Agathe Olivier und Antoine Rigot, Gründer der Gruppe Les Colporteurs, das Stück „Filao“ gebaut haben, wird von viel vergeblichem Verlangen eingeleitet: Himmelwärts wollen alle, aber nur einige kommen hinauf. Wenn sie endlich über das Seil stöckeln, trippeln, springen, tanzen, rutschen, dann ist es wunderbar; aber bis dahin ... Ein kleiner Blondschopf, der erst am Kronleuchter schaukelt und sich später wollüstig unter der Kuppel räkelt, weidet den poetischen Schein der Luftmenschen aus, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt.
So zeigen Les Colporteurs Zirkus in Aquarelltechnik. Vor gut zwei Jahrzehnten fiel die Zeit der Gründung des Tempodroms in eine Renaissance der Artistik mit neuen Schulen und einer Vielfalt von Zirkuskonzepten zwischen süßlicher Verklärung wie bei Roncalli, dem reinen Frauenzirkus La Barbarie und einem ungebändigten Rausch von Luftsprüngen und akrobatischer Lust einer spanischen Kindergruppe. Jede Menge Zirkusgeschichte und -theorie feierte diese Wiederkehr des Körpers als Widerstandspotential gegen mediale Verflachung. Allein die Begeisterung, mit der sich Tanz, Theater und Musik auf diesen Jungbrunnen des Echten und Authentischen stürzten, erscheint im nachhinein verdächtig. Das Sommerprogramm Cirque Noveau will noch einmal an diese Hoffnungen anknüpfen.
Katrin Bettina Müller ‚/B‘ „Filao“, bis zum 25. Juli, tägl. 20.30 Uhr, So. auch um 17 Uhr im Zelt am Anhalter Bahnhof
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