„Es ist so ungerecht“

EU-Kommissar Karel van Miert hadert damit, dass er nicht alle seine Projekte zu Ende bringen konnte  ■   Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Ein Zimmer voller Blumen. Der niedere Glastisch ist fast zu klein für das üppige Gesteck aus roten Lilien. An den Wänden ein Gewächshaus in Öl, daneben eine bunte Marktszene. Sogar die Krawatte des Mannes zieren Blütenmotive. Es mag mit der Kindheit auf dem Bauernhof zu tun haben, dass der Wettbewerbskommissar sich gern mit Pflanzen umgibt. Auf seine Hobbygärtnerei angesprochen, seufzt er tief und ruft: „Die Birnen fallen runter! Gut, dass ich sechs Brüder habe, da kann im Garten immer einer einspringen. Aber nächstes Wochenende muss ich die Birnen abnehmen.“

Dazu wird es wohl nicht kommen. Bis zur letzten Minute ist Karel van Miert ein gefragter Mann. Die meisten Ressorts ließen die Arbeit nach dem Rücktritt der Kommission Ende März allmählich auslaufen. Jacques Santer und Emma Bonino stürzten sich in den Europawahlkampf und sitzen nun als Abgeordnete in den Ausschüssen, die die neue Kommission auf Herz und Nieren geprüft haben. Auch Martin Bangemann hat seinen Schreibtisch längst ausgeräumt. Nur bei Karel van Miert lehnen die Kartons unbeachtet in einer Ecke. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Akten. Seine Sekretärin sagt: „Wir können uns noch gar nicht vorstellen, dass Mittwoch alles vorbei sein soll.“

Dem Chef geht es genauso. Zwar versichert er jedem, der ihn fragt – und das sind viele in diesen Tagen – wie sehr er sich auf die Herausforderung als Präsident der privaten niederländischen Wirtschaftsuniversität Nyenrode freue. Er habe immer gern mit jungen Leuten gearbeitet. Das Kollegium sei fast so international wie seine Generaldirektion Wettbewerb. „Auf das Ende der Machtausübung war ich vorbereitet. Aber die Form, in der es kam – es ist so ungerecht, was in diesem Bericht der sogenannten Weisen steht.“

Zu gerne hätte er seinem Nachfolger Mario Monti ein aufgeräumtes Haus übergeben. Sicher, Wettbewerbspolitik ist ein Prozess. Undenkbar, alle Dossiers zu einem Stichtag abzuschließen. Aber er wollte möglichst viele der unpopulären Entscheidungen, die auf sein Konto gehen, selbst vertreten und nicht den Nachfolger zum Überbringer unangenehmer Nachrichten machen.

In den Pressefächern der Kommission lagen zuletzt fast nur noch Mitteilungen aus dem Hause van Miert: Kommission gegen Deutsche Post, Kommission gegen Lufthansa, gegen WM-Veranstalter in Frankreich, gegen Coca-Cola und WestLB. Es nagt an ihm, dass er nicht alles zu Ende bringen konnte. Sein Arbeitsplan war auf das Jahresende hin berechnet, nicht auf Mitte September. „Das ist fast nicht mehr menschlich, was ich von meinen Leuten verlangen muss. Die GD 4 braucht mehr Leute für die Abteilungen Beihilfe, Kartell und Fusion. Sicher kann einiges in Zusammenarbeit mit nationalen Kartellbehörden angepackt werden. Im Fall Carfour-Promodes wollen die Franzosen das ja selber machen. Sie können auch mitarbeiten, aber die Alleinregie können wir ihnen nicht überlassen.“

„Wir?“

„Bitte?“

„Sie haben ,wir‘ gesagt.“

„Ach so. Ja. Mario. Mario wird ihnen nicht die Alleinregie überlassen.“ Van Miert ist überzeugt, dass sein Nachfolger Mario Monti die Arbeit in seinem Sinne fortführen wird. Hätte die Amtszeit der Kommission Santer wie geplant zum Jahresende geendet, hätte er nach elf Jahren als Kommissar, von denen er die letzten sieben für Wettbewerb zuständig war, ohne Bedauern gehen können. Der ehemalige belgische Sozialistenchef kennt die Verhältnisse in seinem Heimatland zu genau, um sich Illusionen zu machen: Fünfzehn Jahre lang haben die Flamen den einen belgischen Kommissarsposten besetzt. Jetzt sind die Wallonen an der Reihe. Diesen Sprachenproporz konnte nicht einmal Romano Prodi durchbrechen, der sich Jean-Luc Dehaene als Vizepräsidenten der Kommission gewünscht hätte.

Wird van Miert darum gebeten, die Reformpläne des neuen Kommissionspräsidenten Prodi zu bewerten – und auch das kommt in diesen Tagen häufig vor – verliert er für einen Moment die freundlich-verbindliche Ausstrahlung, die ihn sonst umgibt. Das liebenswürdige Gesicht wird finster, fast verächtlich. International zusammengesetzte Kabinette? Als wenn es die nicht schon vorher gegeben hätte! Kommissar und zuständige Generaldirektion unter einem Dach? Nun gut, bislang liegen 400 Meter zwischen ihm und seiner GD Wettbewerb. „Meine Tür war immer offen. Da können Sie jeden meiner Mitarbeiter fragen.“

In den Vorträgen, Interviews, Pressekonferenzen dieser letzten Wochen im Amt taucht eine Sorge immer wieder auf: Der neue Wind, der durch die Flure der Kommission weht, könnte einige gute Grundsätze mit sich fortreißen. Durch die Glaubwürdigkeitskrise, die die Kommission Santer zum Rücktritt zwang, könnte die Unabhängigkeit der Kommission unwiederbringlich verloren sein. „Ich bin immer bereit, meine Entscheidungen zu erklären, jeder kann mich fragen. Aber es geht nicht, dass der Wettbewerbskommissar mit Parlamentariern verhandeln muss, bevor er entscheidet. Ich muss unabhängig sein von nationalen Interessengruppen.“

Wird er gefragt, welche dieser Entscheidungen ihm am schwersten gefallen sind, muss er keinen Moment überlegen: „Buchpreisbindung, WestLB, Sachsenwerk“. Drei deutsche Fälle. Sind die Deutschen nicht länger Europas Musterschüler? Er lacht. Hinter ihm an der Wand des Arbeitszimmers hängt ein einziges großes Foto: Willy Brandt vor dem Brandenburger Tor. Er kennt die Probleme des Nachbarn genau, hat immer Rücksicht genommen auf die Belastungen der Vereinigung. An seinem Urteil ändert das nichts: „Musterschüler? Was den Wettbewerb angeht, würde ich eher sagen, im Gegenteil. Deutschland wollte Schutzklauseln für den Bankenbereich, beim Sport, fürs Fernsehen. Das geht so nicht.“

Die Fähigkeit, unangenehme Wahrheiten augenzwinkernd und charmant rüberzubringen, hat er bis zur Perfektion entwickelt. Abends beim gediegenen Empfang des deutschen Chemieverbandes beweist er das wieder: „Wenn weltweit nur noch einige übrig bleiben – geht es dann wirklich noch um Marktwirtschaft? Da muss man aufpassen ... Über Ihre Aktivitäten könnte ich jetzt einiges sagen. Aber an so einem schönen Abend ... Das soll Mario machen, da ist noch einiges in der Pipeline, wie man auf Ihren Bereich so zutreffend sagen kann.“

Leises Gelächter bei den Herren von der chemischen Industrie. Botschaft angekommen. Die Dossiers „in der Pipeline“ sind mit Monti durchgesprochen, der Übergang wird bruchlos sein. Und Karel van Miert, Europas Mister Wettbewerb, nicht aus der Welt. Er wird in Holland arbeiten, aber in Brüssel wohnen. Mario kann jederzeit anrufen, ganz sicher.