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Sakraler Horror

■ Kein wahres Leben im Gefrierschrank: Thorsten Lensing inszeniert Eliots „Sweeney Agonistes“ in den Sophiensälen

Geschichten ohne oder gegen den Text spielen viele. Seltener baut jemand auf der Bühne fugenartig ein Gefühl auf, das sich nur scheinbar an einer Geschichte anlehnt und den Text als Tonart begreift. So bewegt sich Thorsten Lensings Inszenierung von T. S. Eliots „Sweeney Agonistes“ mit verschlagener Heiterkeit auf die beklemmende Präsenz des Todes zu. Ein bös gesummtes Lullaby: Wer jetzt einschläft, wacht nie mehr auf.

In den vergangenen Jahren erregte der 30jährige Kölner Regisseur unter anderem mit „Krieg“ (Goetz) und „Quai West“ (Koltès) Aufsehen in der freien Theaterszene. In seiner jüngsten Arbeit in den Sophiensaelen braucht Lensing bloß eine schmale Textgrundlage, um ihre überraschenden Untiefen bloßzulegen. Oder zu erfinden. Denn „Sweeney Agonistes“ besteht aus nichts weiter als zwei kurzen Szenen, die T. S. Eliot Mitte der zwanziger Jahre schrieb. Eigentlich hätte daraus ein „aristophanisches Melodram“ werden sollen, im spärlich ausgestatteten Theatersaal begnügt man sich mit angedeutetem Bühnendiener und antiken Chor.

Die nicht zu Ende erzählte Geschichte ist die eines angekündigten Todes. Die Londoner Huren Dusty (Nicole León) und Doris (Miriam Goldschmidt) trinken Milch und legen Karten, Doris zieht die Pik-Zwei und weiß: „Das ist der Sarg“. Kundschaft stößt hinzu – Herzbube Sam (Free-Jazzer Willi Kellers, der das Stück mit minimalen Rhythmusvorgaben begleitet), Sweeney (Clemens Schick) und zwei Fremde aus Amerika (Matthias Breitenbach und Leopold von Verschuer). Die geschäftsmäßig gefeierte kleine Party krampft und vibriert im Schatten der Pik-Zwei; man will sich zu exotischen Rhythmen verausgaben, taumelt jedoch in Paranoia und Potenzgeprahle.

Obwohl sich auf Doris' Negligée Schweißflecken abzeichnen und die Gesichter der Männer rötlich glänzen, fühlt sich dieses Theater nach Eisfach und Kaltschleudergang an. Aus den Bildern eines Sketches in Slowmotion schält sich in enervierender Rhythmik, haltlosen Fermaten und mimischen Melodien eine musikalische Struktur, die doch in jedem Augenblick Statik vermittelt: das tote Gefühl im Lebendigen.

„Und du weißt nicht, ob du noch lebst, und du weißt nicht, ob du schon tot bist“, skandiert am Ende der Männerchor. Eben noch beschwingt, jetzt schon sakraler Horror: Jedes Wort perlt wie ein siedender Tropfen, der auf einer Grabplatte verzischt. Eva Behrendt

Bis zum 14. November, 20 Uhr. Sophiensaele, Sophienstraße 18

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