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Nicht ohne meine Töchter

Die Kindheit im Iran ist kurz. Mit achteinhalb Jahren ist ein Mädchen schon volljährig. Samira Makhmalbaf erzählt in ihrem Film „Der Apfel“ vom schnellen Erwachsenwerden in einem ganz normalen Land  ■   Von Harald Fricke

Die Kindheit im Iran ist kurz. Dort gilt ein Mädchen bereits mit achteinhalb Jahren vor dem Gesetz als Erwachsene. Dieser ungewöhnlich großzügigen Auslegung der Volljährigkeit folgt auch die Rechtsprechung. Der Vater, der in Samira Makhmalbafs Debütfilm „Der Apfel“ seine zwölfjährigen Zwillingstöchter im Haus einsperrt, macht sich strafbar im Sinne von Nötigung. Und deshalb werden ihm die beiden „kleinen Frauen“, die ohne Kontakt zur Außenwelt vor sich hin vegetieren müssen, auch per Entscheid der Behörden von einer Sozialarbeiterin weggenommen.

Die Befreiung der Mädchen hat sich tatsächlich so zugetragen. Der Fall ging vor einigen Jahren durch die iranische Presse, auch das Fernsehen berichtete darüber. Als Samira Makhmalbaf, die Tochter des Filmemachers Moshen Makhmalbaf, die Bilder sah, „hat mich die ganze Situation ungeheuer mitgenommen. Also beschloss ich, die beiden zu treffen.“ Aus dem Treffen ist ein Film entstanden, der die Geschichte von Massoumeh und Zahra auf ihrem Weg in die Freiheit rekonstruiert. Vor der Kamera arbeiten alle Beteiligten den Skandal noch einmal durch – die Frau vom Amt, der Vater und die blinde Mutter der Mädchen inklusive. „Der Apfel“ wurde 1998 in Cannes bei den Filmfestspielen präsentiert. Zwei Monate später erhielt der Film in Locarno den Sonderpreis der Jury. Da war Samira Makhmalbaf selbst gerade erst 18 Jahre alt.

Natürlich macht sich eine junge weibliche Filmregisseurin gut in einem Land, dessen religiöser Fundamentalismus allmählich aufzuweichen scheint. Immerhin sind Frauen verantwortlich für den Wahlsieg des reformfreundlichen Präsidenten Chatami gewesen, schreibt die Filmkritikerin Shahala Mossavar-Rahmani. Und auch die Teilnahme Irans an der Fußballweltmeisterschaft 1998 wurde zu einem Triumphzug vor allem von Frauen durch Teheran.

Diese Leichtigkeit und der Enthusiasmus des Aufbruchs finden sich auch in „Der Apfel“ wieder: Als die Zwillinge zum ersten Mal durch Teheran stromern, lernen sie gleich zwei andere Mädchen beim Hinkepottspiel kennen. Wie enge Freundinnen liegen sie kurz darauf alle zusammen, teilen sich die lang ersehnten Äpfel und träumen in den Himmel hinein. Die Bilder, in denen Samira Makhmalbaf ihren Heldinnen bei der Emanzipation folgt, sind wie langsam sich bewegende Fotografien, die Handlung gleicht mehr einer Pantomime aus dem Alltagsleben. Vermutlich hat sich die Filmemacherin dabei an der Arbeit ihres Vaters orientiert, der das Drehbuch zu „Der Apfel“ geschrieben hat und auch für den Schnitt verantwortlich war. Nicht von ungefähr wird Moshen Makhmalbaf von französischen Zeitungen als „Magritte des Iran“ bezeichnet.

Der Vater im Film weint derweil bittere Tränen, weil ihn die Presse als Ungeheuer bloßgestellt hat. Halb im Spiel, halb wie im Verhör erklärt er, dass er seine Kinder doch nur vor der grausamen Außenwelt beschützen wollte. Das hilflose Bekenntnis gibt wiederum sehr zu denken in einem Land, dessen Gesellschaftsbild seit der Revolution 1979 stets von Tugendhaftigkeit und Disziplin geprägt war. Trotzdem sind die Mädchen in „Der Apfel“ nicht einfach Symbol für mehr Frauenrechte und eine Lockerung der iranischen Verhältnisse. Sonst wäre der Film kaum an der Zensur vorbeigekommen. Stattdessen zeigt Samira Makhmalbaf mit Nachdruck, wie viel Spaß und Freude in der Normalität steckt. Eine solche Nähe zum Leben kann man offenbar auch im Iran wagen. Es sind ja schließlich alles Erwachsene.

„Der Apfel“. Regie: Samira Makhmalbaf, Iran/Frankreich 1997, 85 Min. Hackesche Höfe, Filmbühne am Steinplatz, fsk

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