: Die Chefbedenkenträgerin
Seit 1946 räsoniert Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit“ über den Zustand dieser Welt. Heute wird sie 90 Jahre alt ■ Von Jürgen Roth
Wir, oder wenigstens andere, begehen ihn heute, Marion Gräfin Dönhoffs neunzigsten Geburtstag. Dafür muss es Gründe geben. Die hiesige Presse weiß geschlossen, die am 2. Dezember 1909 im ostpreußischen Herrenhaus Friedrichstein geborene Tochter des August Karl Graf Dönhoff und der Palastdame der Kaiserin Auguste Viktoria beherrsche, womöglich blutsbedingt, gewiss aber „mit der Hand immerhin in der Nähe der Schalthebel“ (Reuters), nicht nur wie keine zweite den Genitiv, jenen aussterbenden Kasus des Deutschen, sondern sei „eine ganz besondere Zeugin dieses Jahrhunderts“.
„Wir zeichnen eine kluge und standhafte Frau aus“, sang Hamburgs Erster Bürgermeister Ortwin Runde während der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an die „Legende“ (Süddeutsche Zeitung), an eine, die „Maßstäbe gesetzt hat“ (Die Welt), an eine, die, psalmte die Frankfurter Rundschau bereits zu Dönhoffs Achtzigstem, „in ihrer selbstbewussten Bescheidenheit und mit ihrer Leidenschaft für Gerechtigkeit und menschliche Würde“ jede Kurve kratzte, den 20. Juli protegierte, die Ostpolitik Brandts pushte, weltfrauliches Prestige errang, 22 und mehr Auszeichnungen heimfuhr und Peter Maffay folgte, wo er und wo es ging: „Nicht alte Wunden aufreißen, sondern Brükken bauen und nach Lösungen in einer noch so fernen Zukunft suchen“, charakterisierte der unbestechliche Althistoriker Golo Mann die leuchtturmstrahlende Sturmwarnerin von der Waterkant. Bossin der Pauker, glasklare Moralistin, Verfechterin der Treue: Das war sie und wird sie fürderhin sein.
„Schon Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hat sie als wahrhafte Demokratin entschieden Position gegen den Nationalsozialismus bezogen“, verkündete Runde. „Nationalismus und Sozialismus, das hat mir sehr eingeleuchtet“, bekannte die „humanistische Journalistin“ (Der Tagesspiegel) gegenüber ihrem Hausschatzblatt Die Zeit, ohne zu versäumen, Hitler für ein ästhetisches Übel zu halten. „Dennoch konnte ich viele andere gut verstehen: Es gab sechs Millionen Arbeitslose [...]. Die Mittelschicht, das Bürgertum, war in der Inflation verarmt, außerdem gab es diese wahnsinnigen Reparationen, und wer Soldat oder Offizier gewesen war, sprach nur vom ,Schandvertrag von Versailles'.“ – „Marion Gräfin Dönhoff hat ihre Leitartikel schon geschrieben, als es die Bundesrepublik noch gar nicht gab“, urteilte hellsichtig der Spiegel (5/1998), Parole: „Durchhalten.“ Selten der Fall, dass jemand derart nahtlos und reitstiefelnietenfest eine historische Kontinuität prägte, die aus ziseliertem Opportunismus und schierer Fortwurstelei den Nimbus des „moralischen Gewissens“ destilliert. H. Böll reüssierte als softer Landser-Prosaist, sein publizistisches Pendant ward die adelsgeschlechtlich prädestinierte „Galionsfigur des deutschen Journalismus“ (AP) – ein Titel, den sie zu Recht herumträgt. Denn sie „verkörpert“ faustisch gramvoll „selbst deutsche Geschichte“ – so wie Christus das Christentum inkorporiert, packt die Dönhoff in einem Aufwasch sich selbst und die deutsche Geschichte.
Zu solchem Behufe muss eins wahrscheinlich Volkswirtschaft studiert, 1935 über die Ökonomie des eigenen einstigen Gutsbesitzes promoviert und hernach, 1946, die Zeit geentert haben. „Von der NS-Edelpostille Das Reich hatte man gerade die Gestaltung übernommen“ (Spiegel), die Gesinnung folgte den Lautmalereien der „,Es-gilt'-Fanfaren“. Zwei Tätigkeitsbereiche sind bald zur Hand: Herausgeben und Schreiben auf freiheitlich-demokratisch hinkendem Versfuß.
1955 partizipiert Dönhoff an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der fatalen Wiederkunft des Alten während der wilden Fünfziger zu wehren. Im gleichen Jahr wird sie Ressortleiterin Politik, 1968 Chefredakteurin der Zeit, 1972 Herausgeberin – rückblickend ein großes Ereignis. Sie hatte „unter diesen Verbrechen gelitten“, und nun brachten die golden ages jenen Einfluss, der „eine gesunde Mischung aus Konservatismus und Liberalismus mit gewissen Idealen und Grundwerten“ (Dönhoff) Frauen und Männern der Neuen Bewegung einleuchtend erscheinen ließ. „Leicht war es“, erinnert sich die Sehrgranddame der deutschen „Pestjournaille“ (Karl Kraus), „in der Zeit vor 1968. Da waren wir unter den jungen Leuten Trumpf – gerade in der Zeit.“
Gerade in der Zeit vermochte und vermag die frühstreaktionär verkalkte Mahnkartonage Dönhoff bis heute – Motto: „Die Zeitung machen, die uns selber gefällt, das Land machen, das wir uns wünschen“ – noch den letzten Summs unters belämmerte Leser- und Wählervieh zu streuen. „Die Sieger kamen“, kommentierte sie 1996 die Nürnberger Prozesse, „und sagten: Und jetzt werden wir mal nicht nur diesem Volk, sondern der Welt vormachen, wie man Recht spricht! Es wäre besser gewesen, sie hätten das deutsche Strafgesetzbuch genommen.“
Das goldene Hausbuch des deutsch-aufrechten Leitartikels hämmerte sie selbst zusammen. Zwischen Laienpredigt und verrostetem Schüleressay changiert ab ovo ihr Stil. Da wird im Plural gemusst („Wir müssen“) und engagiert Papier befragt: „Worauf haben wir all die Zeit“, die Zeit „nach dem Ende der totalitären Regime“, „gewartet?“ Auf Godard? „Antwort: Auf die civil society, eine zivile Gesellschaft also.“ Kam sie? Nein. Weil auf des „Bürgers“ „Gesinnung kommt es an [...]. Also: Nicht nur die Regierungen tragen die Verantwortung, jeder einzelne Bürger ist für das Ganze mitverantwortlich.“
In Doppelpunkten zu faseln, gehört zu Dönhoffs hervorragenden Begabungen. „Noch einmal die Frage: Warum ist unsere Gesellschaft so unbefriedigend [...]? Kurz gesagt: Warum so viel Frust, wo es doch den meisten so gut geht wie nie zuvor?“ Kurz geantwortet: Die wohlfeile Bäckerphilosophie des Antitotalitarismus konveniert seit jeher mit der Mentalität der Aristokratin, die sich dem Pinscher ans Halsband wirft und den entfesselten Kapitalismus verwünscht, weil er Ordnung und Zucht via „elektronische Informationspraktiken“ etc. untergräbt: „Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug ist ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich.“ Die Gegenwelt west in der sprachlichen Katastrophe, wie sie kein Theo Sommer anrichtet. Hier blüht die Stilblüte, „dass es keinen Sinn macht, im Kopfsprung aus einer gelenkten Wirtschaft in die freie Marktwirtschaft zu springen“.
Dem „platten Positivismus und der Pervertierung der Werte“ stemmte jene, die sich rühmt, im „Korsett“ des Junkertums „natürlich gewachsen“ zu sein, die „Elite der Vernünftigen“ (Zeit) entgegen. „Heute ist nirgendwo einer, der dieses Format hat“ – außer ihr und Riefenstahl-Sängerin Alice Schwarzer. Dem Duo infernale gelang die „singulär“ (Dönhoff) verlogene Doublepublikation „Marion Dönhoff – Ein widerständiges Leben“ (Köln 1996). „Ich meine“, möchte man mit der Gräfin „Mut zur Meinung“ meinen, „es müsste zum Beispiel wieder eine Schande sein, wegen Korruption eingesperrt zu werden. Das war in meiner alten Gesellschaft das Korrelat zur Ehre: So etwas durfte man nicht. Und wenn einer sich nicht daran hielt, flog er aus dieser Gesellschaft raus.“
„Ich denke eigentlich nie über mich nach.“ Nein, that's it. „Man hat einen Standpunkt, und dann ist es egal, was die anderen sagen.“ Die Reich-Ranicki der Republik könnte auch „Helmut Schmidt“ heißen. Wir gratulieren dem „Häuptling“ (Schwarzer), einer, die geschmeidig durch sämtliche Worthülsen glitt und „ihre unglaubliche Unabhängigkeit des Urteils“ (R. v. Weizsäcker) strebsam zur wasserdichten Lüge verdichtete – exerziert als permanenten, berufsbedingten und aus Berufung spätpreußischen Kniefall vor der FDGO.
Und Frau Schwarzer wird bestimmt bald ebensosehr neunzig.
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