: Die Fischer vom Öresund
Im Herbst 1943 bringen Fischer fast alle dänischen Juden über die Ostsee ins sichere Schweden. Über einen Segeltörn in historischen Gewässern und fast vergessene Geschichten ■ Von Julia Gerlach
Palle Rouchman trippelt auf der Kaimauer hin und her. „Euer Schiff ist ja doch etwas größer als unseres damals.“ Zu seinen Füßen liegt die 33 Meter lange „Petrine“, ein grün gestrichener Lastensegler, etwas antiquiert, das gute Stück. Kapitän Jochen Storbeck zwängt sich schon mal in seinen roten Ölanzug. An Deck wird „Klar Schiff“ gemacht. Am anderen Ende des Hafens von Gilleleje schwappen Fischkutter in den Wellen. „Wir sind eher mit einem wie dem da drüben gerettet worden“, sagt Palle Rouchman, der kleine runde Mann zeigt auf einen hellblauen Holzkutter. Ein eisiger Wind pfeift vom Kattegat herüber.
Palle Rochman ist einer von knapp 7.000 dänischen Juden, die im Oktober 1943 von Fischern über den Öresund nach Schweden geschippert wurden. Allein hier in Gilleleje, an der Nordspitze der Insel Seeland, warteten zeitweilig 400 Flüchtlinge, mussten versteckt, versorgt und dann so schnell wie möglich mit einem Fischerboot ins neutrale Schweden gebracht werden – in Sicherheit vor den deutschen Besatzern.
Palle Rouchman freut sich, dass sich mal wieder jemand für seine Geschichte interessiert. 25 Jugendliche: 20 Deutsche aus Schleswig-Holstein und fünf Dänen vom örtlichen Gymnasium in Espergaerde. Ein Seminar des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes, finanziert mit einem kräftigen Zuschuss der Landesregierung in Kiel. Gemeinsam segeln die Jugendlichen eine Woche lang auf der „Petrine“, kreuzen auf dem Öresund zwischen Dänemark und Schweden, besuchen in den Küstenorten Flüchtlinge, Fischer, Fluchthelfer, Widerständler von jenem Herbst 1943.
Dänemark, im April 1940 von Hitlerdeutschland besetzt, galt lange Zeit als einer der wenigen sicheren Orte für europäische Juden. In der Hoffnung, das Land möglichst unversehrt über die Besatzungszeit bringen, machte die dänische Regierung viele Zugeständnisse, kollaborierte gar mit den Nazis. Doch in einem Punkt blieb sie hart: Die Juden sollten nicht verfolgt werden. Das ging lange gut. Bis im Sommer 1943 die dänische Regierung zurücktrat, die Deutschen unter Führung von Werner Best das Kommando übernahmen – und die Hatz auf die Juden begann.
Doch es gab da ja noch die Fischer. „Die Deutschen haben nicht mit den Dänen gerechnet“, erzählt Ib Börgensen, als er die „Petrine“ besucht. Er zeigt den Jugendlichen ein Foto seines Vaters, verschmitzt sieht der aus: Jonas Börgensen, Fischer aus Snekkersten, hat so viele Flüchtlinge über den Sund gebracht, dass sein Kutter später sogar in einem Museum in Israel ausgestellt wurde. „Die Deutschen hatten gedacht, dass in Dänemark – wie in den anderen besetzten Ländern – die Nachbarn ihre jüdischen Mitbürger verraten und ausliefern. Klar, gab es bei uns auch Verräter.“ Aber für viele war es eine willkommene Gelegenheit: „Wir waren froh, dass wir endlich etwas tun konnten“, sagt Ib Börgensen.
Gegen die Deutschen und für die eigene Ehre.
Nicht nur die Fischer machten mit: Studenten fuhren mit dem Fahrrad herum, um die Juden zu warnen. Ärzte räumten Krankenhausbetten, tarnten die Flüchtlinge im Zweifelsfall mit einem Kopfverband. Familien, die in den kleinen Orten an der Nordküste von Seeland wohnten, rückten zusammen, versteckten die Verfolgten.
„Jetzt werde ich euch mal erzählen, wie wir die Deutschen damals ausgetrixt haben.“ Vilnar Skov, damals Fluchthelfer, heute gut über achtzig, blickt in die Runde. Er hat die Jugendlichen an den Strand in der Nähe von Helsingör geführt. Hier ist der Sund am schmalsten, und hier war die Flucht am gefährlichsten. Vilnar Skov wendet sich beim Erzählen eher an die dänischen Jugendlichen, mit Deutschen hat er bis heute so seine Probleme. Doch die Orientierung fällt ihm offensichtlich schwer: Wer ist hier Däne, wer deutsch?
Egal, er erzählt: „Wir versteckten die Flüchtlinge dort oben im Wald“, mit seinem Gehstock zeigt Vilnar Skov den Hang hinauf. Zwei Jugendliche springen gerade noch rechtzeitig aus der Bahn. Wer hätte gedacht, dass solche Energie in dem alten Mann steckt. „Kinder und nervenschwache Menschen bekamen von unseren Ärzten eine Beruhigungsspritze, damit sie während der Überfahrt still waren. Sobald die Luft rein war, brachten wir sie dann hier zum Strand.“ Wieder zischt der Stock durch die Luft. „Man musste aufpassen, denn auf der Straße am Strand entlang patroullierte die Gestapo“, sagt Vilnar Skov. Fischersohn Ib Börgensen setzt hinzu: „Auf dem Sund kreuzte zudem die deutsche Marine, aber die haben oft weggeguckt. Vielleicht, weil Seeleute toleranter sind, wer weiß.“
„Die Gestapo musste die Boote zum Fischen aus dem Hafen herausfahren lassen“, erzählt Ib Börgensen, „aber sie wurden misstrauisch, wenn die Kutter morgens ohne Fang zurückkehrten.“ Da halfen die schwedischen Kollegen, gaben den Fischern ein paar Kisten Fang ab, um den Schein zu wahren.
Viele der Fluchthelfer mussten dennoch irgendwann das Land verlassen und sich selbst nach Schweden bringen lassen. Insgesamt verließen 20.000 Menschen – Flüchtlinge und Fluchthelfer – über den Sund Dänemark. „So versteckt unter Netzen und voller Angst über den Sund zu fahren, das stelle ich mir grausam vor“, sagt Svea, eines der deutschen Mädchen.
Treppenstufen knarren. Steil führen sie hinauf auf den Dachboden der Kirche von Gilleleje. Palle Rouchman sagt: „Hier oben hatten sich 80 Menschen versteckt.“ Genauer, sie haben es versucht. Die Kirchturmuhr tickt. Camilla, eine der Schülerinnen aus Espergaerde, zieht ihre Plüschmütze weiter über die Ohren. „Keiner durfte einen Mucks machen, ständig konnte die Gestapo kommen. Kein Streichholz, keine Kerze, nichts“, setzt Palle fort, „und dort durchs Fenster konnte man die Lichter von Schweden sehen. Die Lichter der Freiheit.“ Palle deutet hinter sich.
Bis heute ist unklar, wer die Flüchtlinge damals verraten hat: „Die Leute sagen, es sei die Tochter der Hotelbesitzerin gewesen, die sich in einen deutschen Soldaten verliebt hatte“, sagt die Küsterin der Gemeinde. Sie hat die Segelgruppe hierher geführt. „Aber vielleicht wurden sie auch verraten, weil hier rund um die Kirche so viel Betrieb war, alle wollten helfen, brachten Decken und Essen.“ Die Geschichte der 80 Menschen auf dem Dachboden der Kirche endete im Konzentrationslager Theresienstadt.
Klammes Schweigen. „Was ich mal fragen wollte“, setzt Camilla dann an, „wir hören jetzt, was die Dänen in dieser Zeit gemacht haben, aber wie ist das denn bei euch Deutschen, was haben denn eure Großeltern gemacht?“ Jetzt ist es ausgesprochen. Nichts, kein Wort. Dann folgen Geschichtsfetzten: Der vom Koffer mit den Fotos des Großvaters in Wehrmachtsuniform. Der vom Urgroßvater, der Selbstmord beging. Palle Rouchman horcht auf.
„Ich hatte Bedenken“, erzählt Svea später, „als ich mich zu der Tour anmeldete. Klar hatte ich Lust auf Segeln, finde auch das Thema spannend, aber ich hatte Angst, dass wir von den Dänen schräg angeguckt werden könnten wegen der deutschen Vergangenheit“. Typisch deutsch. „Ihr müsst dafür sorgen, dass es nicht wieder so weit kommt“, sagt Palle Rouchman. Die Jugendlichen versprechen es und toben die Treppe herunter. Erleichtert.
Zurück bleibt der traurige Dachboden mit seiner Gedenkplakette: Den tapferen und mutigen Bürgern von Gilleleje, überreicht vom israelischen Präsidenten. Wenn nicht ab und zu eine Delegation käme, würde am Öresund kaum jemand über die spektakulären Tage im Oktober 1943 sprechen. Micki ist der einzige der dänischen Teilnehmer, der schon vor der „Petrine“-Tour die Fluchtgeschichte kannte und auch nur, weil sein Großvater selbst Fischer war.
„Es ist bis heute ein Thema, das weitgehend verdrängt wurde, im Schulunterricht und der Geschichtswissenschaft kaum vorkommt“, sagt Therkel Straede. Der Historiker hat eines der wenigen dänischen Bücher über die Flucht geschrieben: „Im Ausland wurde viel über unsere Fischer veröffentlicht, bei uns nicht.“
In Dänemark habe nach 1945 die Widerstandsbewegung im Zentrum der Forschung gestanden. Die Saboteure hatten die dänische Ehre gerettet. Ab 1968 rückten die Schattenseiten ins Blickfeld. Bis heute. „Die Dänen haben sich immer für ihre Regierung geschämt, weil sie mit den Deutschen kollaborierte“, sagt Therkel Straede. Diese große Sünde habe sich in das Bewusstsein gebrannt. „Mit kleinen guten Taten, wie sie in den Fluchtmonaten viele Menschen am Öresund vollbrachten, kann man die große Sünde nicht wieder gutmachen. Es widerspricht zudem unserer protestantischen Mentalität, uns mit so etwas zu brüsten“, sagt der Historiker. Selbst die Fischer blieben nach der Befreiung stumm. Sie hatten Angst vor der Steuer, denn viele hatten an den Fluchttouren gut verdient.
„Dänemark den Dänen“, steht in fetten Buchstaben auf dem Hafenklo von Gilleleje. Viele der Fischer handelten aus Nationalismus, sie retteten dänische Staatsbürger. Sie retteten Dänen vor den Deutschen, und die hat man hier noch nie wirklich gemocht. Dass die Flüchtlinge jüdischen Glaubens waren, war nebensächlich. „Es hat in Dänemark nie ein Bewusstsein für Minderheiten gegeben“, sagt Therkel Straede.
Die dänischen Juden und deren Flucht über den Öresund sollen nicht länger ein verdrängtes Thema bleiben. In diesen Tagen wird ein Zentrum für Holocaust- und Völkermordstudien die Arbeit aufnehmen. „Die Diskussion um die Shoah ist im Ausland so wichtig geworden, da können sich die Dänen nicht länger vor diesem – ja eigentlich glorreichen – Kapitel ihrer Geschichte verstecken“, sagt Therkel Straede. Auch wenn es nur ein kleines Kapitel ist.
„Ich kannte ja von Dänemark bisher nur Legoland und die Strände, an denen wir unsere Sommerferien verbracht haben“, sagt Arne. Und jetzt weiß er nicht nur, dass die Dänen ihre Gurken lieber ungeschält essen, wie Camilla, er kennt auch Palle Rouchman: Der steht auf der Kaimauer und winkt, als die „Petrine“ ablegt und langsam aus dem Hafen fährt. Voll beladen mit seinen Geschichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen