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Prekär in Ost und West

Schriften zu Zeitschriften: Unsicherheit und Erinnerung in „Theater heute“, „Berliner Debatte“ und „Fotogeschichte“

Unsicherheit ist das gesellschaftliche Motto unserer Zeit. Für sein gut gelauntes Bonmot aus den Achtzigern, die moderne Welt sei „mehr Nichtkrise als Krise“, würde der Philosoph Odo Marquard heute von links bis rechts wahrscheinlich Handgreiflichkeiten ernten. Krisenempfinden und Krisenerfahrungen existieren überall – jedoch stets individuell: Existenzkämpfe werden heute allein ausgefochten.

In der Februar-Ausgabe von Theater heute stellt Eva Behrendt solche Einzelkämpfer aus dem Theaterprekariat vor, mit ihren Seelenlagen und sozialen Nöten: abgestürzte Schauspieler, ausrangierte Kritiker – und Agenturen gründende Mischexistenzen wie Anja Quickert, die sich in Berlin von Projekt zu Projekt mit Dramaturgie, Lektoraten und Öffentlichkeitsarbeit durchschlägt. „Die Unsicherheiten, dachte ich, könnten vielleicht ganz produktiv sein.“ Diese alte romantische Vorstellung von schöpferischer Kreativität endete mit der Geburt ihres Sohnes; mehr Stabilität ist seither das Ziel. Für viele ist der Nebenjob oder Hartz IV zur Normalität geworden. Die gebrochene Erfahrung der Ost-Boheme schützt manchmal wie im Falle Uwe Schmieders die künstlerische Identität auch in Krisenzeiten. Der Schauspieler betreibt in Berlin ein Off-Projekt, das wie ein revolutionäres Programm klingt: „Notwendiger Neuer Untergrund“.

Eine Vita, die zum Überlebenskampf prädestiniert, bringt der Schauspieler Thomas Lawinky mit. Berühmt wurde er im vergangenen Jahr durch die „Spiralblock“-Affäre: der FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier fühlte sich damals von Lawinky während einer Vorstellung tätlich angegriffen. In Theater heute veröffentlicht er nun ein autobiografisches Stück, das er mit Armin Petras, dem Dramatiker und Intendanten des Berliner Maxim Gorki Theaters, verfasst hat. Hier wird Lawinkys existenzielle Unsicherheit über das eigene Ich zu einer starken Parabel über Verstrickung, Verrat, Erpressung in der Diktatur und deren dämonisches Nachleben: Heiner Müller light sozusagen. 1964 in Magdeburg geboren, wurde der wilde DDR-Gegner Lawinky Ende der Achtziger zum – tja, Stasiopfer? Stasimitarbeiter? Die Aktenlage ist unklar. Der Schauspieler hat sich zu seiner – vielleicht nur eingebildeten? – Stasi-Schuld bekannt und offenbart nun mit diesem Stück abgründige innere Gebrochenheit.

Sich selbst fremd werden: Das war ein typisches Erfahrungsmuster vieler Ostdeutscher in den letzten Jahren. In der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Berliner Debatte Initial analysiert Tanja Bürgel anhand lebensgeschichtlicher Interviews diesen Prozess, der auch die Unterschiede zwischen jungen Ost- und Westdeutschen maßgeblich prägt. Die 1981 in Thüringen geborene Marie hat das berufliche und private Scheitern ihrer Eltern in den Neunzigern erlebt; diese Unsicherheit prägt ihre skeptische Weltsicht. Martin hingegen, 1982 in Niedersachsen geboren, sieht die Dinge „zukunftstechnisch“ lockerer. Mit bundesrepublikanischem Normalbewusstsein sieht er der Zukunft – noch? – gelassen entgegen.

Eine Zeitreise in die langsam verschwindende Welt der DDR unternimmt das gelungene Heft 102 der Zeitschrift Fotogeschichte. Miriam Paeslack stellt hier drei jüngere Fotokünstlerinnen aus Ost und West mit ihren eigenwilligen Arbeiten vor: Sie spüren dem Wandel in Ostberlin seit 1989 nach, die Flüchtigkeiten urbaner Situationen inszenierend. Auch hier existieren Unterschiede zwischen östlichem und westlichem Blick. Eine „in der Vergangenheit verankerte Suche nach Orientierung“ vermag die Autorin bei den östlichen Fotokünstlerinnen zu entdecken. Erneut ist es die Unsicherheit über die eigene Vergangenheit, die schöpferische Unruhe auslöst.

ALEXANDER CAMMANN

Theater heute, Februar 2007, 9,80 € Berliner Debatte Initial, 6/2006: „Prekäre Identitäten“, 10 € Fotogeschichte, Heft 102: „Nachbilder. Fotografie in der DDR“, 20 €

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