Senat drosselt das Tempo

Entschleunigung für besseren Schlaf: Mit einer Tempo-30-Strategie will Rot-Rot Verkehrslärm bekämpfen. Bis Ende des Jahres müssen Autos auf 66 Kilometern Hauptstraße langsamer fahren

von ULRICH SCHULTE

Für einen ADAC-Funktionär dürfte die Nachricht in etwa so schlimm sein wie ein Kratzer in der frisch polierten Motorhaube: Der rot-rote Senat hat gestern angekündigt, das Tempo auf 66 Kilometern Hauptverkehrsstraße auf 30 Stundenkilometer zu drosseln. Ziel sei es, die Geschwindigkeit auf rund 100 Straßenabschnitten bis Ende des Jahres zu verringern, sagte Friedemann Kunst, Verkehrsplaner der Stadtentwicklungsverwaltung.

Mit der Entschleunigung, die mehrere hunderttausend Euro für neue Schilder und Ampelschaltungen kosten wird, will der Senat vor allem den Verkehrslärm mindern. Und den BerlinerInnen damit einen ruhigeren Schlaf ermöglichen. In der Hauptstadt werden viele Menschen durch den Lärm von jaulenden Motorrädern und brummenden Bussen belästigt: An den 66 Kilometern Hauptstraße leben 66.000 stark lärmgeplagte Hauptstädter. In der ganzen Stadt sind laut Kunst tagsüber 230.000 BerlinerInnen vom Lärm besonders gestresst, nachts sind es sogar mehr als 300.000. „Um dieses Problem darf man nicht drum herumreden; man muss aber auch die Verkehrsbelange berücksichtigen.“

Zumal Lärm, so seltsam es klingt, auch ein soziales Problem ist. Wer gut verdient und gebildet ist, sucht sich ruhige Ecken in der Stadt. An vielbefahrenen Straßen wie der Beusselstraße im Wedding sind die Mieten günstig. „Stark betroffen sind oft Menschen, die gar nicht wissen, wie sie sich juristisch wehren können“, sagt Kunst. Will heißen: Ob man ruhiger wohnt, war bisher eine Frage des Informationsstandes und der Kampfeslust.

An manchen Hauptstraßen, zum Beispiel in der Brückenstraße in Mitte, haben Anwohner in langwierigen Prozessen mehr Ruhe für sich eingeklagt. An anderen nicht. Die Tempo-30-Karte der Stadt muss man sich deshalb wie einen Flickenteppich vorstellen. „Diesen unsystematischen und ungerechten Zustand wollen wir beenden“, kündigt Kunst nun an. Der Senat gerät durch eine Anordnung der EU zusätzlich in Zugzwang. Gemäß ihrer Richtlinie muss das Land zum Beispiel eine Lärmkarte erstellen. Mitte des Jahres kann dann jeder Berliner nachschauen, wie intensiv er betroffen ist, kündigt Manfred Breitenkamp an, der zuständige Abteilungsleiter in der Umweltverwaltung (siehe Interview).

Die Drosselung des Tempos wird die Straßen nicht in Watte packen. Aber sie bringt eine Menge, sagt Kunst – nämlich in bestimmten Situationen die Senkung des Lärmpegels auf die Hälfte. Von netten Nebeneffekten, zum Beispiel der Verringerung der Unfallzahl, ganz zu schweigen. Im September 2005 hat der Senat einen ersten, vorsichtigen Schritt getan und 16 Abschnitten von Hauptstraßen Tempo 30 verordnet. „Besonders an Orten, wo die Leute schneller als 50 fuhren, hat das zu einer deutlichen Minderung der Unfallzahl geführt“, sagt Kunst.

Bei seinem Plan geht der Senat in drei Schritten vor. Schnell umstellen lassen sich 6 Kilometer Straße, bei denen keine Ampelschaltungen neu programmiert oder Fahrpläne der BVG umgestellt werden müssen. Die Geschwindigkeitsreduzierung sei hier bereits „weitgehend“ vorbereitet, so Verkehrsplaner Kunst. Dann folgen Straßen, bei denen Absprachen mit den Verkehrsbetrieben nötig sind. Nahezu alle Bezirke sind von der Temporevolution betroffen, die diesen Namen durchaus verdient. Bisher müssen Autofahrer nur auf 60 Kilometern Hauptverkehrsstraße vom Gas.

Die Behörde versucht dabei, zwischen Lärmbelastung der Anwohner und den Bedürfnissen des Verkehrs abzuwägen. Nachts bündele sich dieser auf bestimmten Routen, erklärt Kunst. Auf diesen, die zum Beispiel die Metrolinien der BVG befahren, will der Senat auch in Zukunft den schnellen Verkehrsfluss ermöglichen. Da nehme man auch etwas höhere Belastungen der Anwohner in Kauf, sagt Kunst. In Kauf nimmt der Senat auch den Aufschrei der Autolobby, der ab heute durch die Stadt hallen dürfte.