piwik no script img

Explodierende Gemälde

Tough Stuff: Die New Yorker Künstlerin Julie Mehretu mischt in ihren Bildern schon mal Malewitsch mit Mangas. In Hannover läuft eine Einzelausstellung

VON TIM ACKERMANN

Julie Mehretu ist das neue Riot Girl im internationalen Kunstbetrieb: Die New Yorker Malerin pfeift auf Genregrenzen, mixt Malewitsch mit Graffiti, Architekturentwürfe mit Comics. Am Ende lässt sie alles auf der Leinwand explodieren und kaut noch Kaugummi dabei. Nun zeigt der Kunstverein Hannover ihre bisher größte Einzelausstellung, nach dem spanischen Léon und vor dem Louisiana Museum bei Kopenhagen.

Das amerikanische Riot Girl erobert also Europa. Ziemlich locker wirkt es dabei und sehr selbstsicher. Nimmt das Leben mit ausgreifenden Schritten. Schwarzes Hemd, Bluejeans und Doc Martens, dazu der wilde Lockenkopf. Ihr neues Atelier liegt in einer ehemaligen Fabrik im Berliner Wedding. Backsteinerne Industrieromantik zwischen Lkw-Verleih und „Domäne“. Hier hat ihr die American Academy für ein halbes Jahr ein Atelier zur Verfügung gestellt. In unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer Freundin Jessica Rankin, dem Maler Erik Schmidt und dem Videokünstler Robin Rhode. Sie ist erst vor ein paar Wochen eingezogen. An den Wänden hängen vier beigefarbene Leinwände. Man erkennt schon die typischen Architekturpläne. Darüber wird sie expressivere Partien legen. Und aus den Bildern tough stuff machen, wie sie es nennt. Dieser tough stuff lässt sich nun in Hannover begutachten: Zum Beispiel „The Seven Acts of Mercy“ (2004). Ein Monster von einem Bild. Sechs Meter lang, knapp drei Meter hoch und auf den ersten Blick von einem unentwirrbaren Liniengewimmel überzogen. Und doch erzählt das Bild eine Geschichte.

Eine Geschichte, gespeichert in Schichten. Zu unterst: Architekturpläne verschiedener Sportstadien, verbunden zu einer einzigen Megaarena. Darüber hat Mehretu intuitiv-gestische Striche gezeichnet – sie nennt sie „Agenten“ –, die eine eigene Dynamik entwickeln, sich zusammenrotten oder zu wilden Verschlingungen verbinden. Am Ende heben sie die Architektur aus ihren Angeln: Im Wirbel der Linien scheint die Arena selbst zu kreiseln und an einigen Stellen gar in Flammen aufzugehen.

Das Schichtprinzip ist Mehretus Markenzeichen, wie auch der Kampf zwischen geordneter Architektur und wilder Abstraktion. Die Hannoveraner Ausstellung zeigt diesen Grundkonflikt in zahlreichen Varianten: In „Palimpsest“ (2006) etwa wetteifern architektonische Ikonen des 20. Jahrhunderts um die Aufmerksamkeit des Betrachters – und gehen doch nur im Dschungel der Linien unter. Das düstere „Black Ground“ (2006) hingegen, das nur von ein paar bunten Fetzen Acrylfarbe aufgehellt wird, zeigt Mehretus Reaktion auf den Irakkrieg. „Bush is not my president“, sagt sie dazu. Bläst ihr Kaugummi auf und lässt es mit einem Knall platzen.

Mehretu ist vielleicht keine politische Künstlerin. Ein politischer Mensch ist sie aber mit Sicherheit. Und wenn sie bei Arbeiten wie „Citadel“ über Migration und den Ausbau westlicher Staaten zu „Festungen“ nachdenkt, liegt das auch an ihrer Biografie. Mehretu ist selbst Migrantin. Geboren 1970 im äthiopischen Addis Abeba, wanderte sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie in die USA aus. Aufgewachsen ist sie in Michigan, später besuchte sie Kunstakademie in Rhode Island. Es sei als Afroamerikanerin nicht immer leicht gewesen, zwei Kulturen in sich zu vereinbaren, sagt Mehretu. Für eine notorische Kämpferin hält sie sich aber nicht.

Sollten die brennenden Arenen und die explodierenden Gebäude ihrer frühen Bilder demnach kein Ausdruck heimlicher Umsturzfantasien sein? „Ich bin keine überzeugte Revolutionärin“, sagt Mehretu. „Ich frage nur nach Dingen, die in der Welt passieren.“

Kaum bestreitbar: Das Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung, das Aufbauen und spätere Schleifen übergeordneter Machtstrukturen sind Teil der Menschheitsgeschichte. Die Architektur in Mehretus Bildern verbildlicht soziale Verhältnisse und appelliert an das kollektive Gedächtnis der Betrachter. Ihre Tragweite entfalten die Werke jedoch erst durch die Abstraktion. Der Realismus reize sie nicht, erklärt Mehretu: „Mir scheint die figurative Malerei einfach nicht geeignet, um sich mit der Komplexität und der Multidimensionalität des Lebens auseinanderzusetzen.“ Das ganze Leben auf die Leinwand bringen zu wollen – vielleicht ist es dieser Anspruch, der ihre Bilder so faszinierend macht.

Manchmal, wenn ihr Leben im Atelier zu sehr ins Abstrakte abgleitet, holt sie sich die Außenwelt ins Studio. So schaute sie in New York beim Arbeiten auf Fotos von Flüchtlingscamps und Demonstrationen. In Berlin sind die Wände noch nackt. Vielleicht entdeckt sie ja auf ihrer täglichen Autofahrt durch die Stadt neue Inspirationsquellen. Die American Academy hat sie, Jessica und ihren gemeinsamen Sohn in Berlin-Wannsee einquartiert. „Meine gated community“, witzelt Mehretu über ihre Unterkunft. Der Villenvorort fühlt sich noch etwas fremd an. In New York leben sie in Harlem.

Bis 1. April, Kunstverein Hannover, Katalog: 50 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen