rösingers revue: Und draußen warten die alten Fragen
Am Tag fünf kommt eine plötzliche Berlinale-Depression auf. Was soll das alles? Wie im wirklichen Leben haben die tollsten Erlebnisse immer nur die anderen, haben die anderen die besten Filmen ihres Lebens gesehen, während man sich mit koreanischen Beziehungsdramen am Strand gequält hat. Dabei hatte das Wochenende so gut angefangen, mit einem Glam-Höhepunkt, der Gala zu „Berlin Alexanderplatz – Remastered“ im Admiralspalast.
Der ganz große Star-Glam blieb zwar aus – man sah vornehmlich Westberliner 70er-Jahre-Prominenz und Bundestags-Celebrities –, aber immerhin: Wann geht man schon mal mit Antje Vollmer und Wolfgang Thierse ins Kino? Auch die Gala hatte einige ungalaeske Momente, Rede um Rede musste ausgehalten werden, und zwischendurch verstand es Max Raabe, aus all den großartigen, abgründigen Schlagern der Weimarer Republik die flachsten, glattesten, textlich schwächsten herauszusuchen und in seiner typisch säuselnden Art vorzutragen.
Zum Glück folgten nach etwa zwei Stunden Gala endlich Teil 1 und 2 der berühmten Fernsehserie. Es war großartig, und in der ersten Euphorie verabredete man sich zu 15-stündigen DVD-Partys, um alle Folgen schön am Stück zu sehen. Ein echter Galamoment war es, als die Fassbinder-Schauspieler – eben noch 25 Jahre jünger, jetzt sichtlich zu feinen Menschen gealtert – auf die Bühne kamen.
Beim anschließenden Buffet und geselligen Beisammensein ließ sich wieder schön beobachten, wie die Berlinerin der Generation 50 plus, wenn sich sich mal schick macht, immer wieder gern auf Schlaufen, Volants, Rüschen, rote Punkte und neckische Steppnähte setzt. Aber herrlich ist es, wenn junge Menschen vorbeilaufen und einen freundlich nötigen, noch ein Glas Sekt vom Tablett zu nehmen.
Nach so einem vollen Berlinale-Tag geht man dann müde, aber mit vielen Eindrücken – George Clooney im Schwarzweiß-Berlin um 1945, koreanische Teenager in lindgrünen Gummizellen und der arme Franz Biberkopf, der doch nur mehr vom Leben wollte als das Butterbrot – ins Bett. Aber da kriecht sie schon heran, die Berlinale-Depression.
Vielleicht liegt es daran, dass man überall eine halbe Stunde früher sein muss. Weil es zum Lesen zu dunkel ist, sitzt man mehrmals täglich eine halbe Stunde allein, schweigend im Halbdunkel und denkt über die eigene sinnlose Existenz nach. Und wenn dann der Berlinale-Trailer läuft, wenn sich der Goldene Bär im Sternenregen auflöst, wird man sich seiner transzendentalen Obdachlosigkeit schmerzlich bewusst. Die wertvollste Lebenshilfe kommt dann natürlich von einem Kreuzberg-Film: „Prinzessinnenbad“ gibt der geschundenen Seele wieder Auftrieb.
Wie schön, wenn 15-jährige Mädchen klare Vorstellungen vom Leben haben: „Wenn ich erwachsen bin, werd ich bisexuell und kauf niemals im Ökoladen!“ Die tapferen Mütter setzen vernünftige Grenzen: „Keen Heroin und nicht schwanger werden!“ Und außerdem kann man sich Anregungen für die Gesprächsführung mit schwerfälligen Jungs holen: „Ick komm aus Kreuzberg, du Muschi!“
Draußen ist es dann wieder schwierig, denn sonntags steigt die Frequenz der Rucksäcke, die einem am Kaffetisch von vobeilaufenden Berlin-Besuchern ins Gesicht gedrückt werden, stark an. Und bei Blitzeis und Schneeregen kommt die alte Menschheitsfrage auf: „Wohin, wohin, wohin mit uns?“ Es mangelt ja nicht an Geheiminformationen: Die Kinderfilmlounge wäre so gemütlich, in der Gossip-Kitchen gibt es „beauty moments“, die xy-Bar in der Köthener Straße soll ganz angenehm sein, aber wer will das alles prüfen, wer entscheidet, wann? So langsam wird die Zeit knapp.
CHRISTIANE RÖSINGER
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