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Bekenntnisse des Anti-Darwin

Der Philosoph Theodor Lessing sah die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt nicht als Folge „natürlicher Selektion“, sondern der Manipulation des Menschen durch Domestizierung

„Ich vermöchte kaum zu sagen, wie viele Freuden ich den weißen Mäusen verdanke“, so beginnt ein Kapitel des Buches „Meine Tiere“ von Theodor Lessing. Der 1933 von den Nationalsozialisten in seinem tschechischen Exil ermordete Philosoph widmete es 1926 seiner Tochter Ruth. Im Jahr darauf veröffentlichte er ein weiteres Buch über „Blumen“. Beide wurden nun im Rahmen einer Gesamtausgabe seiner Werke neu aufgelegt und um einige im Prager Tagblatt erschienene Aufsätze ergänzt.

Berühmt wurde der Hannoveraner Professor, der 1925 wegen einer charakterologischen Hindenburg-Studie seinen Lehrstuhl verlor, mit einem Buch über den Antisemitismus, „Der jüdische Selbsthaß“, sowie mit seiner Philosophiekritik „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“.

In den Büchern über Blumen und Tiere verficht Lessing die These, dass Domestikation und Züchtung die Arten ihrem wilden Leben in Freiheit entfremdet habe. So beschreibt er den Truthahn, „Heiliger Vogel der untergegangenen Welt, stolze Seele der Urwälder von Louisiana“, der heute „auf allen Hühnerhöfen heimisch und betriebstätig“ ist, als einen „Zerbrochenen: Wenn ich dich kollern und toben sehe, dann lache ich nicht mehr, wie ich als Kind über dich lachte. Ich nehme den Hut ab und sage: ‚Das ist mein großer Lehrer Arthur Schopenhauer (…) Das ist Eugen Dühring (…) Das sind alle Besten meines Vaterlandes. Verbittert‘.“

Auch das so lange gezähmte und gezüchtete Pferd, in dem immer „irgendein Stück Irrsinn lauert“, ist ihm ein Symbol jenes Weltprozesses, den er „Untergang der Erde am Geist“ nennt. „Der Eindruck eines lastenden Wahnsinns verschwindet“ dagegen, wenn man dessen nahe Verwandte (Zebra, Tapire), die noch im „ursprünglichen Naturzustand“ leben, betrachtet. In ihrer domestizierten (vergeistigten) Form dagegen anverwandtschaften sie sich fatal dem Menschen – als eines aus der Natur herausgetretenen Geistesschaffenden.

Beim Spiel mit dem Lämmchen seiner Ziege im Garten stößt ihm die „Gleichheit unserer Naturen“ dagegen in umgekehrter Weise auf, was noch durch den Umstand gefördert wird, „daß wir Milchbrüder sind“, denn Lessing und das Lämmchen Nanekobo leben gleichermaßen von der Milch der Mutterziege. Wenn sie auf dem Rasen spielen, stoßen sie mit tief gesenktem Kopf gegeneinander und reiben sich die Stirne: „Man berennt sich gegenseitig mit dem Kopf und versucht übereinander hinwegzuspringen. Es ist eine Sportübung, die ich vom akademischen Leben her gewohnt bin (…) Wir sind beide hervorragende Kopfarbeiter.“

Wir haben es aufs Ganze seiner Tiergeschichten mit einer doppelten geistigen Bewegung zu tun: Er setzt den Menschen und damit sich selbst herab, um dem Tier nahe zu kommen, gleichzeitig erhöht er das Tier, vor allem das wilde, aus dem gleichen Grund. Der Anarchist Lessing hat Kropotkins Studien über die „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ noch an Empathie zu überbieten versucht, um wieder mit allen auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln – bis hin zu den Pflanzen, denn „Natur spricht durch die Blumen von uns selbst“. Deswegen lässt sich auch „durch Beobachtung eines Blumenstraußes eine Fülle Seelenkunde gewinnen“, mehr noch: „Die Blume ist der Stern und Kern der Natur, indem sie aus Verwesung und aus all dem durch Tier und Mensch geschaffenen Abfall des Kreislaufes wieder Frieden und Schönheit gewinnt.“

Erst einmal gilt aber in Bezug auf den Gegensatz zwischen wilden und gezüchteten Formen dasselbe für die Flora wie für die Fauna, denn neue Blumensorten haben laut Lessing bloß eine begrenzte Lebensdauer: „Nur der natürliche Same hat die dunkle Kraft, eine Art am Leben zu erhalten. Die künstlich gezüchteten Blumen dagegen sind wie die Genies der Dichtung und des Geistes: Höhepunkte einer Entwicklungsreihe. Nach ihrem Erscheinen schlägt die Gattung wieder in die Wildheit zurück.“

Sie sind aber auch noch etwas anderes: Manche Blume könnte man „als ein festgebanntes Insekt“ bezeichnen – oder andersherum: „viele Insekten, zumal die Bienen und Schmetterlinge als frei bewegliche Blumen“. Diese mit den höher entwickelten Arten zunehmende „Freiheit“ – „das Heraustreten bewegter und bewegender Willensmächte in Pflanze, Tier und Mensch aus der ruhenden Schwere des Vororganischen“ – könnte aber auch als ein „Vorgang des Lebensverminderns und das Absterbens“ verstanden werden.

Lessing fügt damit seiner radikalen Biologie die letzte Konsequenz hinzu: Wenn beispielsweise „der Hund ein durch jahrtausendelange Zucht geknebelter und sozusagen in sich hineingeprügelter Wolf“ ist und „die Biene das Leben dem Werk opfert, die Wespe dagegen alles Werk dem Leben opfert“ – dann entfernen wir uns mit jeder Verfeinerung und Hochzüchtung vom „Wesen“, das der stets verbrecherischen „großen Einzelpersönlichkeit“ entgegensteht. Das letzte Kapitel in Lessings Blumenbuch heißt dann auch „Steine“: Von ihnen ist „zu erfahren, was ich auf Euren Märkten verlernte: Leben“.

Für Charles Darwin war sein aus den Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter gewonnener Begriff der „natürlichen Selektion“ zwar kein teleologischer Prozess mehr, aber ein teleonomischer, das heißt ein Prozess mit Zweckmäßigkeit ohne Zweck. „Es ist diese teleonomische Eigentümlichkeit der Beziehungen unter den Lebensformen, die in ihren Entwicklungsprozess Tendenz hineinbringt, eine Tendenz, die man als Tendenz zur Entwicklung und Optimierung der ‚natürlichen Technologie‘ (Marx) bezeichnen kann.“ Indem Theodor Lessing demgegenüber die fortschreitende Denaturierung der Lebensformen verwünscht – und ihre Entwicklungslogik beklagt hat, gehört er in die Reihe der entschiedenen Anti-Darwinisten. Vielleicht erklärt sich daraus bereits zum Teil der Hass, mit dem die Nazis ihm nach dem Leben trachteten? HELMUT HÖGE

Theodor Lessing: „Meine Tiere“. Mit Ergänzungen von Theodor Lessing, Nachwort von Ulrich Holbein und „Blumen“. Mit einem Essay von Georges Bataille, Nachwort von Ulrich Holbein. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 220 bzw. 240 Seiten, 17,90 bzw. 19,80 Euro

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