: „Eine neue Zeitung für eine neue Welt“
Ortstermin in der virtuellen Welt: Rowan Barnett ist Chefredakteur von „AvaStar“. Das Springer-Blatt erscheint in „Second Life“. Ein Gespräch über Identitätsprobleme und den Journalismus der Zukunft
Da wäre selbst „Bild“-Chef Kai Diekmann neidisch: ein gläserner Wolkenpalast auf einer eigenen Insel. Hier residiert der Brite Rowan Barnett, 25, Chefredakteur der vom Springer Verlag herausgegebenen Wochenzeitung „AvaStar“. Besser gesagt: sein virtueller Stellvertreter Regis Braathens. Interviewtermin in der Online-Parallelwelt „Second Life“. Hübsch: Es gibt sogar virtuellen Tee. Dampfend steht er auf dem Bürotisch. Nur das Fragen stellt sich als etwas umständlich heraus: Der Text muss in ein Chat-Fenster getippt werden.
taz: Herr Barnett – oder soll ich lieber Herr Braathens sagen?
Rowan Barnett: Hier drin Regis Braathens!
Regis, Sie sehen aus wie ein echter Journalist, während meine Spielfigur ein bisschen farblos ist. Wie haben Sie das geschafft?
Ich habe ein wenig Zeit gebraucht, um mich zu personalisieren. Der Avatar wurde von einem professionellen Designer erstellt. Aber die Kleidung habe ich mir selber ausgesucht und gekauft.
Wenn ich recherchiere, setze ich mich ans Telefon. Oder schnappe Block und Stift und gehe raus. Wie recherchieren Sie in der zweiten Welt?
Ich habe auch einen virtuellen Block und einen Stift (der Avatar zückt ein Blöckchen). Und ich gehe auch raus. Allerdings dauert es weniger Zeit. Ich kann mich überallhin teleportieren, wenn ein Ereignis stattfindet. Ansonsten nehme ich das Telefon und spreche mit meinen freien Redakteuren in Amerika, Australien oder Belgien.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Wir sind sechs in Berlin und haben über 20 freie Mitarbeiter, die über die ganze Welt verteilt sind.
Wie viele Stunden sind Sie als Reporter im zweiten Leben unterwegs?
Es kommt darauf an, wie die Nachrichtenlage ist. Fünf bis acht Stunden am Tag. Das muss sein, um die Geschichten zu finden und zu recherchieren. Außerdem muss ich hier im Büro auf AvaStar Island präsent sein. Das ist wichtig, denn wir haben viele Leser, die mit mir über die Zeitung sprechen möchten oder eine Geschichte vorschlagen.
Sie tragen fast den ganzen Tag ein Pseudonym. Schon mal Identitätsprobleme gehabt?
Am Anfang hat man natürlich Schwierigkeiten, da man sich so intensiv mit dieser Welt beschäftigt und so viel drin sein muss, um die Welt zu verstehen. Aber je länger man drin ist, desto mehr wird es zu einem normalen Arbeitsplatz.
Eine Blondine in knappem Minirock rennt ins Büro herein, läuft einmal quer durch den Raum, steigt auf den Tisch und verschwindet wieder.
Normal? Das würde in der wirklichen Welt nicht passieren, dass ein fremde Frau in ein Interview platzt.
Kommt darauf an, wo man das Interview führt (die Spielfigur lacht). Aber das gehört mit zu unserem Konzept. Auch die Redaktionskonferenzen finden im offenen Raum statt, und die Leute können mit ihren Avatars zuhören.
Was fasziniert Sie daran, über eine virtuelle Welt zu berichten? Die echte hat doch genügend Geschichten.
Diese Welt ist nahezu hundertprozentig nutzergeneriert, und die Geschichten entstehen so zufällig wie in der realen Welt. Und sie sind oftmals genauso überraschend.
Viele Menschen finden es schon überflüssig, dass die echten Medien über eine angebliche Brustverkleinerung von Dolly Buster schreiben. Wer interessiert sich da für Berichte über Pixelbrüste?
Der AvaStar gibt Orientierung und bietet Serviceinformationen für die User. Die Geschichte über Escortservices, die wir in der letzten Ausgabe hatten, interessiert die Nutzer, weil sie in „Second Life“ oft damit konfrontiert werden. Ebenso wie die Erhöhung der Grundstückspreise oder die Geschichte, dass RL-Marken verstärkt ins SL drängen.
RL und SL?
Real Life und Second Life. Wir greifen diese Dinge auf. Bisher haben wir hervorragendes Feedback, wie zum Beispiel auf die Geschichte über die Diskriminierung von Furries.
Diskriminierung von wem?
Die Titelgeschichte der dritten Ausgabe. Wir haben entdeckt, dass es sehr viele Leute in Second Life gibt, die auf Furries geschimpft haben. Das sind Avatars, die halb Tier, halb Mensch sind.
Ganz amüsant, aber doch kaum mehr als ein Spiel für große Kinder?!
„Second Life“ ist nicht nur Spielplatz, sondern ein kreativer Melting Pot, wo neue Dinge ausprobiert werden können: Design, Rollenspiele, Marketing.
Bis jetzt ist AvaStar umsonst: Denken Sie wirklich, dass die User dafür irgendwann Geld ausgeben werden?
Ja. Viele erzählen uns, dass sie dafür auch bezahlen würden. Man sieht, dass die Leute nicht nur Freebies, also Gratisprodukte konsumieren, sondern für Qualität und Nutzwert echte Linden-Dollars liegen lassen.
Zum Schluss eine persönliche Frage, von Avatar zu Avatar. Sie sind im wirklichen Leben 25 Jahre alt, also noch am Anfang Ihrer Karriere. Wollen Sie irgendwann zu einer „wirklichen“ Zeitung wechseln?
Ich bin Journalist, und dieser Job ist sehr spannend: eine neue Zeitung für eine neue Welt zu schaffen. Was später kommt, kann ich noch nicht sagen.
INTERVIEW: WOLF SCHMIDT
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