Eine Lehrstunde für Bürokraten

Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz hatte keine Chance, während der rot-grünen Regierungszeit nach Deutschland zurückzukehren. Vorrangig war die „Gefahrenabwehr“

Ungerührt spricht der Beamte über die „Ungültigmachung“ des Aufenthaltsrechts

BERLIN taz ■ Im Untersuchungsausschuss des Bundestages ist gestern von wichtigen Zeugen Klartext geredet worden. Demnach bekam der frühere Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz von den Entscheidungsträgern der rot-grünen Bundesregierung keine Chance, nach Deutschland zurückzukehren. Im Gegenteil. Die damals zuständigen Führungskräfte des Innenministeriums machten deutlich, dass sie mit allen Mitteln versuchten, eine Einreise des gebürtigen Bremers zu verhindern. Zur Begründung erklärte Exstaatssekretär Claus Henning Schapper (SPD), bei den Überlegungen sei die „Gefahrenabwehr“ vorrangig gewesen. Das Nein zu einer Rückkehr von Kurnaz halte er „nach wie vor für richtig“.

Schapper berichtete, die deutschen Sicherheitsbehörden hätten im Herbst 2002, als die USA eine eventuelle Freilassung Kurnaz’ in Aussicht stellten, gravierende Anhaltspunkte für eine Gefährlichkeit des damals 20-jährigen Bremer Deutschtürken gehabt. Man habe den USA deshalb mitteilen lassen, dass „eine mögliche Abschiebung von Herrn Kurnaz nicht nach Deutschland“ stattfinden sollte. Schapper betonte, diese Entscheidung sei keineswegs als Votum für einen Verbleib des Häftlings in Guantánamo zu verstehen gewesen. Als türkischer Staatsangehöriger hätte Kurnaz ja in die Türkei reisen können.

Ganz so eindeutig war die Haltung in der rot-grünen Regierung jedoch keineswegs. Der Verweis des Innenministeriums auf die alleinige Zuständigkeit der Türkei steht in gewissem Widerspruch zu Verlautbarungen des damaligen Außenministers Joschka Fischer (Grüne). Dieser hatte Anfang 2002 in einem Schreiben an Kurnaz’ Anwalt zugesagt, er werde sich um das Schicksal des in Deutschland geborenen Mannes kümmern. Auch Fischer wurde gestern befragt – allerdings erst nach Redaktionsschluss, weil sich die Vernehmung der Zeugen aus dem Innenministerium in die Länge zog. Ausführlich schilderten Schapper und der Referatsleiter Hans-Georg Maaßen, nach welchen Maßstäben sie agierten: eine Lehrstunde für Bürokraten.

Maaßen erzählte, er sei im Herbst 2002 gebeten worden, zu prüfen, ob eine Einreise von Kurnaz möglich wäre. Dabei kam er zu dem Schluss: Sie war nicht möglich, weil die Aufenthaltsgenehmigung des gebürtigen Bremers „erloschen“ sei, da er sich bereits mehr als sechs Monate „im Ausland“ aufgehalten habe und keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung beantragt worden sei. Dabei habe es keine Rolle gespielt, so Maaßen, dass Kurnaz zwangsweise nach Guantánamo verschleppt worden war – und gar keine Möglichkeit hatte, eine Verlängerung zu beantragen. „Es handelt sich um ein Erlöschen kraft Gesetzes“, sagte Maaßen. Etwaige Ausnahmefälle seien im Gesetz nicht vorgesehen. „Es kommt allein auf die Abwesenheit von mehr als sechs Monaten an.“

Dabei sei es „nicht entscheidend, ob die Abwesenheit freiwillig erfolgt“. Um die Einreise auch ganz sicher zu verhindern, schlug Maaßen damals vor, die USA um den Reisepass zu bitten – mit dem Ziel, die Aufenthaltsgenehmigung zu entfernen. Es ging, so Maaßen, um eine „physikalische Ungültigmachung“.

Doch dazu kam es nicht, weil die USA den Pass nicht zur Verfügung stellten. Das Vorhaben findet aber auch Maaßens Vorgesetzter Schapper heute noch richtig – obwohl das Verwaltungsgericht Bremen im November 2005 entschied, dass Kurnaz das Aufenthaltsrecht nicht hätte entzogen werden dürfen.

Zu einer Wende im Verhalten der Bürokratie kam es erst im Januar 2006 – unter der neuen Regierung von Angela Merkel. Damals, so Maaßen, habe man gehört, dass im Kanzleramt entschieden wurde, die Wiedereinreise von Kurnaz zu „akzeptieren“. Im August 2006 kam Murnaz frei. LUKAS WALLRAFF