piwik no script img

Jukebox

Der multifunktionale Oberst

13-jährig zupfte er seine ersten selbst komponierten Liedchen auf der akustischen Gitarre seines älteren Bruders. Als komplizierter Teenager von gerade mal 17 Jahren schmiss er die Schule, um sich ganz der Musik zu widmen. Keine drei Jahre später galt Conor Mullen Oberst aus Omaha, Nebraska, als größte Hoffnung … tja, wessen Hoffnung eigentlich? Etwa des Country, dieses aufreizend einfältigen, sich in den immer wieder gleichen musikalischen Mustern erschöpfenden Stils? Oder doch des Folk, der seinerzeit eine Wiederauferstehung feierte? Oder ging es um den Emo, der die wütende Attitüde des Punk mit den romantischeren Anwandlungen der „teenage angst“ verknüpfte? Die Antwort ist: Ja. Oberst galt, gerade mal volljährig geworden, als Retter all dieser uramerikanischen Ausdrucksformen. Sagten nicht nur die Kritiker, sondern auch Lucinda Williams. Oder Michael Stipe und Bruce Springsteen. An einem dermaßen wilden Lorbeersalat kann man sich eigentlich nur den Magen verderben – oder über sich hinauswachsen, wie es Oberst und seine Band Bright Eyes 2005 getan haben. Da kamen zeitgleich zwei Platten auf den Markt, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Mit der countrylastigen „I’m Wide Awake It’s Morning“ und der rockigeren „Digital Ash In A Digital Urn“ belegten Bright Eyes aus dem Stand Platz 1 und 2 der US-Indie-Charts. Leider wurde „I’m Wide Awake …“ damals so frenetisch gefeiert, dass offenbar kein Jubel mehr für das bessere, weil wesentlich waghalsigere Album übrig geblieben ist. Auf „Digital Ash …“ opferten Bright Eyes den Country, um einen bösen Blick in die dunklen, dissonanten Abgründe der Rockgeschichte zu tun. Keyboards gab es hier, Sequencer, zwei Schlagzeuger und mit Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs einen elektrischen Gitarristen, der auch noch das solideste David-Bowie-Plagiat in so kleine Teile sägte, dass Oberst sie am Mikrofon unerkannt wieder zusammensetzen konnte. Sein Solo in „Down A Rabbit Hole“ gehört zu den spektakulärsten des jungen Jahrtausends. Nebenbei freilich schrieb der beste Songwriter seiner Generation mit Uptempo-Krachern wie „Ship In A Bottle“ auch einige der besten Rocksongs dieses Jahres. Das alles muss man nicht mögen und nicht einmal wissen. Es genügt, dieses beste seiner Alben wohlwollend im Hinterkopf zu haben, wenn Bright Eyes am Montag in Berlin ihre neue Platte „Cassadaga“ vorstellen. Zwar präsentiert Oberst sich darauf hellwach, aber ein wenig digitale Asche hätte schon gut getan. ARNO FRANK

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen