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Eine feuchte Angelegenheit

Stuttgart steht vorm Titelgewinn – doch Fragen nach der Wahrscheinlichkeit der Meisterschaft werden vom VfB abgewehrt

WORTE ZUM ABSTIEG – WORTE ZUR RETTUNG

„Ich wollte nie die Erfahrung machen abzusteigen. Jetzt habe ich die Erfahrung. Ich hoffe, das wird mir nicht mehr passieren. Ich fühle mich Scheiße.“ (Jürgen Klopp, Trainer des FSV Mainz 05, hat seine gute Laune verloren)

„Ich liebe diesen Verein.“ (Mohammed Zidan, Mainzer Edeltechniker, der in 15 Rückrundenspielen 14 Tore erzielte)

„Wenn Leute glauben, dass das nun innerhalb von zwei Jahren auf Tabellenplatz sechs geht, dann sind sie einfach falsch gewickelt. Vereine, die größenwahnsinnig geworden sind wie Köln oder Gladbach, spielen nächste Saison in der zweiten Liga.“ (Friedhelm Funkel, Trainer von Eintracht Frankfurt, will nicht hoch hinaus)

„Irgendwann muss man mal sterben, und wenn du Trainer bist, wirst du entlassen.“ (Klaus Augenthaler, der als Trainer des VfL Wolfsburg nicht mehr geschafft hat als den Nichtabstieg)

„Es wird nicht wieder 36 Jahre dauern, bis wir wieder aufsteigen. Wir haben die Möglichkeit, schnell wieder hoch zu kommen“ (Michael Frontzeck blickt als Trainer von Alemannia Aachen wohlgemut in die Zukunft)

AUS BOCHUM JÜRGEN ROOS

Cacau weinte. Hemmungslos. Fassungslos. Und er schämte sich nicht. Denn es waren Freudentränen, die dem Brasilianer in Strömen über die Wangen flossen. Die Hände hielt er hinter dem Kopf verschränkt. Und immer wieder richtete er den Blick Richtung Himmel. Es dauerte nach dem Schlusspfiff einige Minuten, bis der Stürmer des VfB Stuttgart sich wieder gefasst hatte. „Ich konnte nicht glauben, dass wir das Spiel noch gedreht haben“, sagte der gläubige Christ, der mit seinem 3:2-Siegtreffer beim VfL Bochum für den VfB Stuttgart das Tor zur Meisterschaft ganz, ganz weit aufgestoßen hat.

Cacaus emotionale Reaktion war nicht der einzige Beleg dafür, dass da etwas ganz Großes passiert war im Bochumer Stadion. Nachdem Schiedsrichter Florian Meyer die Partie fristgerecht abgepfiffen hatte, rannten die VfB-Profis im Sprinttempo zu ihrem Torhüter Timo Hildebrand, der mit einer Weltklasseparade gegen Dabrowski in der 87. Minute den Stuttgarter Sieg festgehalten hatte. Danach tanzten sie ausgelassen vor den mehr als 5.000 VfB-Fans, die mit nach Bochum gereist waren. Und das anschließende Gebrüll in der Kabine – untermalt von lauter Musik – war durch die geschlossene Tür ganz gut zu hören. Voller Rührung war zuvor auch die VfB-Chefetage mit Präsident Erwin Staudt und Finanzchef Ulrich Ruf auf der Tribüne gestanden und hatte Tränen vergossen.

Es war also eine reichlich feuchte Angelegenheit, dieses vorletzte Spiel der Saison. Weil es so verrückt verlief. Und weil es alle Beteiligten in eine Achterbahnfahrt der Gefühle stürzte. Der Tiefpunkt war kurz vor der Pause erreicht, als die Stuttgarter beim 1:2 zum zweiten Mal in Rückstand gerieten. Zuerst hatte Oliver Schröder Bochum 1:0 in Führung gebracht (4.). Dann war es Marcel Maltritz, der den zwischenzeitlichen Ausgleich durch Thomas Hitzlsperger (24.) mit einem 25-Meter-Schuss erneut in eine 2:1- Führung für den VfL verwandelte (42.). Der VfB war angeknockt, lag in der Blitztabelle nur noch auf Platz drei, und als es nach fünfzig Minuten auch noch heftig zu regnen begann, glaubte mancher der Stuttgarter Fans schon, da weine der Himmel über den geplatzten Titeltraum.

Dann kam Mario Gomez. Wieder so eine Geschichte. Am 10. März hatte der VfB-Torjäger sein letztes Spiel gemacht, war dann für Wochen wegen eines Innenbandrisses im Knie und eines Handbruchs ausgefallen. Und jetzt, jetzt sollte er dem VfB die Titelchancen erhalten. „Seine Einwechslung war auch eine psychologische Sache“, sagte der VfB-Trainer Armin Veh später. In der 55. Minute kam Gomez ins Spiel, in der 61. Minute hatte der Deutschspanier schon getroffen. 2:2 – der VfB war zum zweiten Mal zurückgekommen. Und plötzlich schien auch in Wirklichkeit die Sonne wieder über dem Stadion, was Cacau so sehr behagte, dass er seine Superleistung mit dem 3:2-Siegtreffer krönte.

Was den Verlauf der zweiten Hälfte entscheidend dramatisierte, waren die Ergebnisse aus den anderen Stadien. Zuerst wurde der Bremer 1:2-Rückstand bekannt, dann das Schalker 0:2 in Dortmund. Die Aufschreie der Fans konnten den VfB-Profis nicht verborgen bleiben. Dennoch blieben sie ruhig und zogen sich nach der Führung taktisch clever zurück. Bis zum Schlusspfiff. Armin Veh analysierte hinterher nüchtern. „Meine Mannschaft hat wieder bewiesen, dass sie zurückkommen kann – und das war nicht das erste Mal“, sagte er. „Ruhig und sachlich“ habe er in der Pause die Problemfelder der ersten Hälfte angesprochen, die Thomas Hitzlsperger so beschrieb: „Wir waren heute aufgeregter als in der ganzen Saison.“ Am Ende war es wie so oft im Fußball eine einzige Szene, die über Sieg oder Unentschieden entschied. „Da drüben steht der Mann, dem wir es zu verdanken haben, dass wir an der Spitze stehen“, sagte Torschütze Mario Gomez. Und wies mit der Hand in Richtung Timo Hildebrand.

Danach wehrten alle Stuttgarter kollektiv den Hagel an Fragen nach der Wahrscheinlichkeit des Titelgewinns ab. Bescheiden wie sie nun schon die ganze Saison über sind. „Abgerechnet wird am Schluss – auch wenn das ein noch so langweiliger Spruch ist“, sagte Trainer Veh. „Wir werden nicht überheblich“, sagte Hitzlsperger. Manager Horst Heldt machte wenigstens ein wenig Hoffnung auf mehr. „Wir haben es selbst in der Hand und werden nun alles dafür tun, Meister zu werden.“

Nüchtern betrachtet hat der VfB Stuttgart die Champions-League-Teilnahme sicher und die theoretische Möglichkeit, das Double zu schaffen. So würde es der Trainer Armin Veh wohl formulieren. Aber wer möchte die Sache schon nüchtern betrachten in diesen schwäbischen Jubeltagen: Der VfB steht unmittelbar vor seiner fünften deutschen Fußballmeisterschaft. Mit der jüngsten Mannschaft der Liga. Und das ist eine echte Sensation.

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