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Die ganz große Bildungsbürgershow

Am Samstag war es so weit: Peter Steins lang erwartete Inszenierung von Schillers „Wallenstein“ ging über die Bühne. 10 Stunden! 7.500 Verse! Warum man sich das antut? Weil Stein so etwas kann

VON DIRK KNIPPHALS

Zunächst das Sportive. Die Schauspieler bewältigen die Textmassen großartig. Kaum ein Hänger, nur ein paar verfrühte Einsätze. Das Theaterereignis, das auf den Plakaten „Peter Stein inszeniert, Klaus Maria Brandauer spielt Schillers Wallenstein“ heißt, ist auch ein Triumph der Memorierungstechniken. 7.500 Schillerverse, kaum gekürzt, Dialoge, in denen bis zu 20 Minuten lang nichts anderes geschieht, als dass zwei Schauspieler komplex gebaute Sentenzen aufsagen – diese Aufführung hat auch den Hochleistungsaspekt zu zeigen, wozu Menschen, Talent, Training und Führung vorausgesetzt, in der Lage sind.

Auch die Zuschauer halten, wenn man die Erfahrung der Premiere am vergangenen Samstag als repräsentativ setzen darf, die zehn Stunden Aufführungsdauer von 14 Uhr bis Mitternacht gut durch. Und das bei einfachem, nicht sonderlich gepolstertem Gestühl. Was dabei hilft, ist die Stimmung in der Halle; nach einigen Stunden Spielzeit tauscht man mit seinen Sitznachbarn schon einmal anfeuernde Seitenblicke. Was auch hilft, sind die vier Pausen, eine davon eine gute Stunde lang. In ihr kann das Publikum, eine Parallelgesellschaft für sich, in die Dönerbuden und Unterklassenkneipen der Umgebung strömen. Dieser „Wallenstein“ findet in einer ehemaligen Brauereihalle in dem sehr multikulturellen Viertel Berlin-Neukölln statt. Bei geplanten Aufführungen bis in den Oktober hinein sind da interessante Sozialkontakte zwischen Kulturbürgertum und genuinem Prekariat zu erwarten.

Allerdings beginnt die Aufführung erst einmal mit einem einstündigen Desaster. Nachdem der Prolog vorgetragen ist (Lieblingsverse: „Und jetzt an des Jahrhunderts ernstem Ende, / Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird …“), beginnt „Wallensteins Lager“. Das ist keine leicht zu inszenierende Sache, zugleich aber auch – eher Genregemälde aus dem Soldatenleben als Drama – der modernste Teil des „Wallenstein“. Peter Stein hat seine Schauspieler dafür in pittoreske Uniformen gesteckt und ein kostümiertes Historientheater auf einer mit Kunstschnee gefüllten Bühne inszeniert. Dann wird das Derbe der Vorlage noch als moderates Trinkgelage nebst routiniertem Der-Marketenderin-an-die-Wäsche-Gehen dargeboten. Und die berühmte Kapuzinerpredigt, eher eine Parodie auf eine Bußpredigt, hat Peter Stein vollkommen ernst genommen.

So gut die Schauspieler Schiller auch sprechen, das ist biedermeierlich und absolut enttäuschend. Dabei hätte man gerade in diesem Teil einiges erwarten können, schließlich gehört die Inszenierung von sinnlos vergehender Zeit und ein sozialer Realismus zu Peter Steins Stärken. Mitte der Siebziger hat er für Gorkis „Sommergäste“ ein ganzes Wäldchen auf die Bühne verpflanzt. In den legendären Tschechow-Inszenierungen der Achtziger glaubte man den Staub, der sich in der Kleidung und in den Seelen der Figuren festgesetzt hat, mit Händen greifen zu können. Bei „Wallensteins Lager“ aber meint man nun einer Trachtengruppenaufführung, wenn auch auf allerhöchstem Niveau, beizuwohnen oder einem nachgestellten Arte-Themenabend über den Dreißigjährigen Krieg. So geht man bedrückt in die erste Pause hinein.

Danach aber ist zum Glück alles anders. Das liegt an dem Bühnenbild, das nun keinen angedeuteten Realismus mehr spielen muss. Es besteht aus variablen Wänden, die man schnell zu intimen Kammern zusammenschieben kann und die sich im nächsten Aufzug zu weiten Aufmarschplätzen öffnen können. Das liegt an dem Ensemble rund um Peter Fitz als Octavio Piccolomini, Jürgen Holtz als Oberst Butler, Alexander Fehling als Max Piccolomini und Friederike Becht als Wallensteins Tochter Tekla, zu dessen Fähigkeit, Schillers Versen Leben einzuhauchen, man schnell Zutrauen fasst. In den Zweier- und Dreierkonstellationen auf der Bühne kommt dann auch Peter Steins Geschick, Text in Situationen zu übersetzen, gut zu tragen.

Und das liegt an Klaus Maria Brandauer. Inmitten all der zurückhaltenden Politiker und redlichen Offiziere gibt er den Wallenstein auch schon mal als Rampensau. Wie er seine Stimme plötzlich in die Höhe schraubt, wie er unvorhersehbar von zu Tode betrübt auf hell entzückt wechselt, wie er schließlich, als es ans Kämpfen geht, den Krieger aus sich herauswürgt, dann aber auch sofort wieder auf liebenden Familienvater umschaltet – das alles hat immense Unterhaltungsqualitäten.

So blättert die Aufführung in ihren Hauptteilen den Schiller-Text sorgfältig auf. In den Episoden um Max und Thekla gibt es ein Schiller’sches Stürmen und Drängen zu entdecken, das angesichts der Realitäten des Krieges sein Selbstbewusstsein verliert und nicht mehr lebensfähig ist. Mit Thekla ist auch ein Emanzipationsdrama angelegt, das allerdings über das reine Setzen auf das Gefühl nicht hinauskommt. Bei den Szenen der Staatsaktionen rund um Octavio und Questenberg schließlich arbeitet Peter Stein akribisch einen Gegensatz von Politik (kalt und kalkulierend) und dem noch nach Maßstäben der Ehre funktionierendem Militär heraus – der Politiker Octavio und der geradlinige Offizier Butler zusammen vollziehen dann das Schicksal. Und die Schiller’sche Faszination an dem großen Mann Wallenstein, der groß scheitert und sterben muss, hat in Klaus Maria Brandauer sowieso einen idealen Verstärker gefunden.

Bleibt die Frage: Warum? Warum soll man Schauspieler dazu bringen, den ganzen Schiller-Text zu spielen? Warum soll sich das Publikum dem aussetzen?

Im Vorfeld hat es in Zeitungsartikeln die Antwort gegeben: weil das Thema Krieg wieder aktuell ist. Das kann aber leicht zur legitimatorischen Ausrede werden. Zwar stößt man im Wallenstein häufig auf Sentenzen wie „Der Krieg ernährt den Krieg“. Aber Einsichten in heutige Kriegssituationen gewährt das Stück nur marginal; ab und an kann man eben noch Herfried-Münkler-Thesen vom entgrenzten Krieg hineinprojizieren. Aber schon Ansätze von asymmetrischen Kriegen finden kaum noch Widerhall – es prallen bei Schiller doch eher symmetrisch die Söldnerhaufen aufeinander –, und bei Verquickungen von Krieg und Medien stößt man vollends ins Leere. Wem es um die Realität heutiger Kriege zu tun ist, sollte sich eher noch mal „Apokalypse Now“ ansehen.

Um Schiller auf aktuelle Situationen anzuwenden, hätte es entschiedener Regie-Einfälle bedurft – das Einzige, was Peter Stein noch mehr hasst als die gegenwärtige Theaterkritik. Eher schon funktioniert der „Wallenstein“ bei ihm als Geschichtsdrama, wie es von Schiller ja auch angelegt wurde. Wie verheerend der Dreißigjährige Krieg bis in die Gefühlskonstellationen und bis ins menschliche Selbstverständnis hinein war, davon erhält man durchaus einen guten Eindruck.

Aber es hilft nichts. Bei der Warum-Frage steht sofort ein zweites, dezidiert kulturkonservatives Antwortmuster im Raum: Weil die Inszenierung gegen modernes Regietheater gerichtet ist. Weil es hier um einen wiedererkennbaren Klassiker geht. Bei der Premiere stieß man auf viele Zeitgenossen, die diese Aufführung liebend gern gegen die vermeintlichen Exzesse eines angeblichen heutigen Schmuddel-und-Medien-Theaters ausgespielt hätten. Aber da sollte man vollends vorsichtig sein. Nicht nur, weil es tatsächlich Inszenierungen gibt, die einen Klassiker wirklich überzeugend von heute aus anzupacken verstehen – im vergangenen Jahr Jürgen Goschs Düsseldorfer „Macbeth“ etwa oder aktuell Jan Bosses „Werther“ am Berliner Maxim Gorki Theater. Sondern auch, weil in diesem „Wallenstein“ mindestens soviel U- wie E-Kultur drin ist. Er ist eben auch ein Event und die große Bildungsbürgerlichkeitsshow: Hochkulturkonsum. Das ist ja auch gar nicht schlimm. Nur sollte man da keine neue große Erzählung von Erhebung durch Kunstgenuss zusammenbasteln.

Vielleicht kann man sich ja auf folgende Antwort einigen: Weil Peter Stein es kann. Weil es ihm über weite Strecken gelingt, das ganze Stück interessant umsetzen, nicht mehr und nicht weniger. Anstatt diese Inszenierung gegen andere Theateransätze auszuspielen, könnte man doch feststellen, dass Peter Stein damit die gegenwärtigen Möglichkeiten des Theaters erweitert. Es gelingt ihm, dieses alte Stück gerade auch in seiner Fremdheit zu belassen. Wie eine Textoper führt er es auf, mit Schillerarien und kämpferischen Duetten. Ein interessanter Ansatz unter vielen, mit Klassikern umzugehen.

Am Schluss sah man bei der Premiere den bald 70-jährigen Peter Stein mit Klaus Maria Brandauer, seinem Helden, und dem übrigen Ensemble ausgelassen und getragen von dem Jubel des Publikums über die Bühne toben. Ein akribischer Leser und strenger Schauspielerführer, der ein Leben lang dem deutschen Stadttheater entkommen wollte – und dem das auch gelungen ist. Erst, indem er der Berliner Schaubühne vorstand, die unter seiner Führung von 1970 bis 1984 ein Theaterlabor war und eine Theatersekte. Dann, indem er sich rar machte, mit italienischen Schauspielschülern arbeitete, im englischen Sprachraum Opern inszenierte, in Salzburg Shakespeare auf die Bühne brachte, dazwischen seine Olivenbäume in der Toskana kultivierte und in einem Gewaltakt einmal den gesamten „Faust“ stemmte. Und jetzt also den Schiller.

Es arbeitet in diesem Mann eine möglicherweise welteinmalige Mischung aus Demut (vor dem Text) und Größenwahn (was dessen theatrale Umsetzung betrifft). Na klar, denkt man sich, irgendwie auch ein Theater-Wallenstein.

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