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Schrumpfen als Chance

Die SPD steckt in der Krise – obwohl sie im Bund mitregiert und die Wirtschaft boomt. Manche meinen, die SPD-Basis sei zu anspruchsvoll. Doch das ist nicht das Problem

Die Krise der SPD ist nicht gefühlt, sondern echt. Die SPD braucht keinen Therapeuten, sondern Erfolge

Seit Jahren verliert die SPD kontinuierlich Mitglieder. Mit der Linkspartei hat sich ein Konkurrent etabliert, der nicht verschwinden wird, wenn die SPD-Spitze auch weiterhin ganz doll böse auf Oskar Lafontaine ist. Noch gravierender als die Erfolge der Linkspartei ist die nachhaltige Entfremdung von den Gewerkschaften. Denn die Gewerkschaften waren stets mehr als ein funktionaler Bündnispartner: Sie waren Rekrutierungsreservoir für die Partei, teilweise waren SPD und Gewerkschaft gar identisch. Wie zerrissen die Partei zudem ist, zeigte eine Umfrage vor zwei Wochen, die selbst professionelle Schwarzseher überraschte: Zwei Drittel der SPD-Mitglieder wollen lieber in die Opposition, als weiter mit Merkel zu regieren. Warum?

Eine gängige Erklärung lautet, dies sei der einschlägig bekannte sozialdemokratische Phantomschmerz. Die Union könne einfach regieren und vergessen machen, dass Merkel 2005 mit einem neoliberalen Programm angetreten war, von dessen Verve in dieser Koalition wenig übrig geblieben ist. Der SPD fehle, so heißt es, dieser alltagstaugliche Pragmatismus: Sie leide so sehr an der Kluft zwischen den Zwängen des Regierungshandelns und eigenen Zielen, dass sie in einer selbst gemachten Depression landet. Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosenzahlen sinken unter 4 Millionen, doch die SPD-Basis starrt noch immer paralysiert auf Hartz IV.

So sieht es aus, so steht es in den meisten Leitartikeln. Aber so ist es in Wirklichkeit nicht. Die Krise der SPD ist nicht gefühlt, sie ist echt. Sie wird sich auch nicht durch zukunftsfrohe, pädagogisch wertvolle Ansprachen der miesepetrigen Basis, wie Peer Steinbrück meint, aus der Welt schaffen lassen. Die SPD hat kein mentales Problem, sondern ein politisches. Sie braucht keine Therapeuten. Sondern einen Beweis, dass sich regieren lohnt.

Auch wenn sich die Koalition geändert hat: Die SPD regiert seit neun Jahren. In diesem Zeitraum sind die working poor bundesrepublikanische Wirklichkeit geworden. Die SPD hat die Flexibilisierung der Arbeit entschlossen vorangetrieben – die Hälfte der Jobs, die in dem Aufschwung 2006 entstanden, waren Leiharbeitsjobs. So gibt es, mitten im Boom, Hunderttausende, die Jobs haben und trotzdem so wenig verdienen, dass sie Hartz-IV-Empfänger sind. Auch die Lohnerhöhungen werden im Schnitt unter 3 Prozent liegen. Der lang ersehnte Aufschwung ist da. Doch die abgehängte Unterschicht, die sich von der SPD abgewandt hat und lieber die Linkspartei wählt, hat wenig davon. Und auch die arbeitende Mittelschicht kriegt nur ein bescheidenes Stück vom Kuchen ab.

Das Problem ist nicht die oppositonssüchtige, kindische SPD-Basis, die glaubt, man könne die negativen Effekte der Globalisierung per Parteitagsbeschluss abschaffen. Das Problem ist, dass die regierende SPD ein zentrales Versprechen nicht einlösen kann: nämlich, für soziale Ausgewogenheit zu sorgen. Zwar mahnen SPD-Minister fast täglich sorgenvoll an, dass doch alle etwas vom Aufschwung haben sollten. Doch sie klingen dabei wie Oppositionspolitiker, die der Regierung eine legitime Forderung ans Herz legen.

Das Dilemma der SPD fokussiert sich derzeit in der Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro. Wenn die SPD dies durchsetzt, könnte sie zeigen, dass sie doch noch Interessenpolitik für die Unterschicht machen kann. Gleichzeitig könnte sie damit ihre von Schröder ruinierte Beziehung zu den Gewerkschaften aufhellen, die froh wären, nicht länger Tarifverträge mit 3,50 Stundenlohn unterschreiben zu müssen. Dort, wo es noch Tarifverträge gibt.

Stefan Reinecke, 48, lebt in Berlin und ist Autor der taz. Bis 2001 war er Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“. 2003 erschien von ihm eine Otto-Schily-Biografie: „Vom RAF-Verteidiger zum Innenminister“ (Hoffmann & Campe).

Doch die Union blockt den Mindestlohn schroff ab. Und die SPD agiert, als wäre sie in der Opposition. Sie hat eine Unterschriftenkampagne für den Mindestlohn initiiert. Das ist für eine Regierungspartei recht ungewöhnlich, weil sie diese Kampagne gewissermaßen an sich selbst adressiert. Dieses Dilemma der Sozialdemokraten demonstrierte die Linksfraktion kürzlich mit einer äußerst gelungenen Agitprop-Aktion im Bundestag. Sie brachte den SPD-Text für einen Mindestlohn wortwörtlich als eigenen Antrag im Parlament ein – die SPD verwies ihre eigene Forderung an die Ausschüsse.

Der Mindestlohn ist für die SPD auch deshalb so wesentlich, der Widerstand der Union dagegen so schmerzhaft, weil das sozialdemokratische Konto dieser Regierung ansonsten gähnend leer ist. So hat der Bundestag gestern eine Unternehmensteuer verabschiedet, die alle Fehler der rot-grünen Ära getreulich wiederholt. Man senkt die Steuern in der vagen Hoffnung, damit illegale Steuerflucht und legale Verlagerungen ins Ausland zu reduzieren. Ob das irgendwann funktioniert, ist unsicher. Sicher ist allerdings, dass die Reform den Staat erst mal jährlich 5 bis 8 Milliarden Euro kostet und vor allem Konzernen nützt. Auch die SPD-Linke, die noch vor ein paar Wochen zum Aufstand blies, hat kleinlaut zugestimmt.

Die Bilanz der SPD nach eineinhalb Jahren großer Koalition ist ziemlich trübe. Sie hat die Mehrwertsteuererhöhung durchgesetzt, die auch die sozial Schwachen belastet. Sie hat die Rente mit 67 forciert, die vor allem älteren Arbeitslosen zwei Jahre länger Hartz IV bescheren wird. Und sie hat mit der Unternehmensteuerreform das Kapital entlastet. Nur mit dem Mindestlohn scheitert sie. Ist es angesichts dieser Schieflage denn so völlig rätselhaft, dass mancher Ortsverein glaubt, dass die Partei in der Opposition besser aufgehoben wäre? Warum muss die SPD mitregieren, wenn sie noch nicht mal im Aufschwung ihr Kerngeschäft – den sozialen Ausgleich – betreiben kann?

Die zweite drängende Schwierigkeit, der die SPD-Spitze hilflos begegnet, ist die Linkspartei. Unermüdlich erklärt Kurt Beck, dass die SPD niemals mit der Linkspartei koalieren werde. Irgendwie scheint die SPD lernresistent die Fehler der 80er-Jahre zu wiederholen, als man den Grünen mit der gleichen Mixtur aus Arroganz und Ausgrenzung begegnete. Wie damals lässt sich die SPD-Führung von dem Gefühl beherrschen, dass ihr unrechtmäßig Wähler entwendet wurden, die zu ihrem angestammten Besitz gehörten. Damals waren es Ökopaxe und Linksliberale. Heute sind es die Unterschichten und sozialdemokratische Traditionalisten. Wie damals reagiert die SPD gereizt und beleidigt – und macht mit ihrem Mantra, nie und nimmer mit der Linkspartei koalieren zu wollen, sich selbst schwach und die Linkspartei stark.

Früher oder später wird die SPD ihre Schmollecke verlassen müssen. Dann wird sie konkrete Bedingungen für Rot-Rot-Grün entwerfen – und damit die Linkspartei in die Bredouille bringen, die zeigen muss, dass sie politikfähig ist. Dann wird die SPD auch entdecken, das Schrumpfen eine Chance ist – und ihr, der einzigen Partei, die mit allen anderen koalieren kann, die Schlüsselrolle zufällt.

In der Regierung muss die SPD den Mindestlohn durchsetzen. Und sie muss sich der Linkspartei öffnen

Das wird noch dauern. Im Moment ist das Problem der SPD nicht ihre politikunfähige Basis. Ihr Problem ist eine Führung, die unbedingt in der Koalition bleiben will – aber immer weniger zu sagen weiß, warum.

STEFAN REINECKE

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