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Der Verlust der äußeren Welt

Über die spitzen Klippen der Wut folgt Medea ein großes Ensemble von Tänzern in der Regie von Sasha Waltz. Premiere der Oper von Dusapin war in Luxembourg

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Vorhang fällt. Die rote Stoffflut rauscht herab mit einer Plötzlichkeit, als sollten wir mit einem Stoß hineingeschleudert werden in jene Welt der „Medea“, die Sasha Waltz in ihrer Inszenierung der Oper von Pascal Dusapin vor uns eröffnen will. „Jason, wo ist mein Mann“: Schon die ersten Worte, schon die ersten klagenden Laute, mit denen sich die Stimme der Medea von einer hohen, monoton sirrenden und Gedanken betäubenden Tonlinie absetzt, führen mitten ins Herz dieser Tragödie einer verlassenen und betrogenen Frau. Unmissverständlich und kompromisslos.

„Medea“ ist die zweite Operninszenierung der Choreografin Sasha Waltz, und wieder, wie „Dido & Aeneas“, in Zusammenarbeit mit dem Chor Vokalconsort Berlin und dem Orchester der Akademie für Alte Musik aufgeführt, koproduziert von der Berliner Staatsoper und dem Grand Theatre Luxemburg. Dort fand die Premiere statt, im September kommt die Inszenierung nach Berlin. Ungewöhnlich ist sie allein schon deshalb, weil Dusapin Anfang der Neunzigerjahre zwar für alte Instrumente komponiert hat, in den großflächigen Klangbildern aber eher an die Hörerfahrungen der elektronischen Musik ansetzt.

Dusapins nutzt einen Text von Heiner Müller als Libretto. Medea war für Heiner Müller eine der Zeuginnen von der Verdrehung der Geschichte: Sie ist, bevor sie zur Mörderin wird, ein Opfer jenes Systems, das Machterhalt über Gerechtigkeit stellt und immer aus der Position der Sieger erzählt. Mit ihr trat Müller und später auch Christa Wolf in ihrem Roman „Medea. Stimmen“ gegen den Mythos vom Zivilisationsheroen an. Und so, als eine, die als Einzige noch die Kraft hat, auf der Wahrheit der Unterworfenen im ideologisch abgedichteten Weltbild der Sieger zu beharren, baut auch Dusapin diese Figur.

Es gibt nur ihre Rolle in dieser Oper und das macht die Arbeit nicht leicht für die Choreografin Sasha Waltz und ihr Ensemble aus 18 Tänzern. Der Chor, der später einsetzen wird, und vier weitere Medea-Stimmen, die aus dem Orchestergraben die Solistin auf der Bühne begleiten, paraphrasieren ihre Klage. Wo die Stimme der Sopranistin Caroline Stein sich über die spitzen Klippen der Wut und das schroffe Gelände der Rache arbeitet, grundiert sie der Chor mit dunkel trauernden Tiefen. Die Tänzer, die sich durch dieses hochaufgeladene Gravitationsfeld um Medea arbeiten, füllen diesen weiten Klangraum mit feinen, wimmelnden Linien. Sie bilden sozusagen Medeas doppelte Landschaft, den inneren Schauplatz ihrer Emotionen und ihr äußeres Umfeld im Haus von Jason.

Dabei gelingen den Tänzern sehr schöne Bilder. Zum Beispiel wenn sie den Sturm andeuten, der sich in Medea aufbaut, nachdem Jason sie wieder mit einer dummen Ausrede hat auflaufen lassen. Die Musik tritt für einige Zeit quälend auf der Stelle, äußerlich bleibt Medea ruhig. In den Gruppen der Tänzer aber wedeln zwei, drei, vier mit dem faltenreichen Stoff der Kostüme und den langen Haaren erst einer, dann von zwei und drei Tänzerinnen, bis man die Frauen überall wie vom Sturm vorwärtsgetriebene Gestalten sieht. Oder der Moment, in dem Medea über das Los ihrer Kinder entscheidet: Hin und hergeworfen werden sie zwischen den Gruppen, sie zerren und ziehen an ihnen, entführen und verstecken sie. Doch so, wie ein Relief mit seinen halbplastischen Linien zurücktritt hinter dem vollen Volumen einer Skulptur, überlassen die Tänzer diesmal der Stimme der Medea den ersten Platz.

Je mehr sie sich auf ihre Rache besinnt, je schärfer sie ihre Argumente für ihr Recht darauf fasst, Jasons neuer Braut und ihren Kindern das Leben zu nehmen, desto weniger ist sie noch zugänglich für die Bewegungen der äußeren Welt. Dieser Dissonanz zwischen der Größe ihrer Entschlusskraft auf der einen Seite und dem Schrumpfen ihrer Wahrnehmung auf der anderen, entspricht das Verhältnis zwischen der Musik und der tänzerischen Umsetzung. Nur eine Szene bildet davon eine großartige Ausnahme, wenn Liza Alpizar Aguilar und Luc Dunberry von der Hochzeitsnacht erzählen, in der Medeas geschenktes Gewand die Braut vergiftet.

Während der Arbeit an der Medea hat sich Sasha Waltz auch mit bildenden Kunstwerken der Antike beschäftigt. Sie hat mit ihren Tänzern vor dem Pergamonaltar im Berliner Pergamonmuseum gearbeitet und die lebendigen Körper mit einer Haut wie aus Stein überzogen. Eine Filmsequenz in der Oper lässt zunächst glauben, man sähe einen antiken Steinfries, bis sich die Figuren zu bewegen beginnen. Doch nicht nur durch dieses Spiel erinnert ihre Arbeit mehr denn je an die Anfänge des Ausdruckstanzes, als sich Tänzerinnen wie Isadora Duncan oder Mary Wigman von der Kultur der Antike und anderen Vorstellungen, die man von archaischen Riten hatte, inspirieren ließen. Ein expressiver, poetischer Gestus durchzieht alle diese Körper, die sich in langen Spiralen verketten, auftürmen zu Hügeln, mit den Armen wogen wie das Meer und der Wind. Und damit bleiben sie letzten Endes doch auch stets etwas zu schön für die Raserei der Medea. Ästhetisch wird kein Rahmen übertreten.

Damit aber wird das Potenzial der Figur unterschritten. Denn Medea ist auch immer die, die die Normen einer Kultur, der sie sich eine Zeit lang angepasst hat, von außen sieht und ihr Funktionieren durchschaut. Ihr Blick reicht immer weiter als das System, indem ihre Geschichte verhandelt wird. Das hat sie von jeher interessant gemacht, schon bevor sie, wie in letzter Zeit in Inszenierungen in Berlin, Leipzig, Halle und Stuttgart (siehe unten), einen Boom der Neuinterpretation als Heldin der Migrationsgesellschaft erfuhr.

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