: „Gebrauch ja, Missbrauch nein“
ALLGEMEINGUT Was öffentlich finanziert wurde, muss öffentlich bleiben, sagt die Gemeingüterexpertin Silke Helfrich
■ (42) ist Romanistin und Publizistin in Jena. 1999 bis 2007 war sie Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko. Sie ist Herausgeberin des Buches „Wem gehört die Welt?: Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter“. Sie schreibt auch im www.commonsblog.de.
INTERVIEW GERHARD DILGER
taz: Frau Helfrich, die Gemeingüterdebatte verlässt den akademischen Bereich. Bei der Weltbürgerbewegung ist sie angekommen, aber noch nicht so recht im Mainstream. Woran liegt das?
Silke Helfrich: Man wechselt die Weltsicht nicht wie ein Hemd. Die alte Weltsicht dominiert nach wie vor. Es ist anstrengend, sich gegen sie zu wehren – und einfacher, Wachstum und Bruttoinlandsprodukt zu beobachten, als dafür zu sorgen, dass es uns auch ohne Wachstum gut geht. Es ist einfacher, neue Antworten auf alte Fragen zu formulieren als neue Fragen zu stellen.
Zum Beispiel …?
Brauchen wir Arbeitsplätze oder sozial eingebundenes Tätigsein, das uns Sicherheit gibt, also „das Netz, das uns trägt“, wie Vandana Shiva die Gemeingüter nennt? Schließlich ist es einfacher zu hoffen, dass der Staat das Ruder noch herumreißt oder dass doch noch das Perpetuum mobile erfunden wird.
Wie definieren Sie Gemeingüter?
Es sind Beziehungen zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen weltweit und den Dingen, die sie brauchen, um sich zu reproduzieren, um zu produzieren – Ressourcen also, die niemand individuell hergestellt hat, auf die es einen kollektiven Zugriff geben muss: Wasser, Land oder Luft, aber auch Software-Codes, genetische Codes. Es müssen klare Regeln festgelegt werden, wozu solche Ressourcen zu nutzen sind und wozu nicht, und die Kontrolle darüber muss gesellschaftlich bleiben.
Wo liegt der Unterschied zum Antiprivatisierungsdiskurs der letzten Jahrzehnte?
Dieser Diskurs hatte immer eine Tendenz, die Dinge zu diskutieren, als sei die Welt binär, also Markt oder Staat, Kooperation oder Konkurrenz, privat oder öffentlich. Die Gemeingüterdebatte nimmt wieder das unsichtbare Dritte jenseits dieser Dichotomien in den Blick. Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat viele Gemeingütersysteme von den Philippinen bis zu den Schweizer Almen studiert, wie Menschen dort miteinander kooperieren. Ihr Fazit: Die Menschen wissen selbst am besten, was für sie gut ist, und deswegen gibt es so viele funktionierende Beispiele. Im Binnensee Taupo in Neuseeland etwa gibt es eine große Forellenpopulation. Dort ist es gelungen, indem sich alle Menschen eine Angellizenz besorgen und so viel fischen können, wir sie verbrauchen können, sie dürfen die Fische jedoch nicht verkaufen. In den Restaurants dieser sehr touristischen Region gibt es keine Forellen. Dieses altes Prinzip – Gebrauch ja, Missbrauch nein – findet sich in allen Traditionen.
Trotzdem kommt einem das fast schon exotisch vor …
Es gibt es eine historische Entwicklung, die Gemeingüter immer wieder einzuhegen, durch Privatisierung, Patentierung oder Korruption. Das findet immer dort statt, wo die Ressourcen gerade am produktivsten sind. Der Zugriff auf Land wird eingezäunt, wenn Gene entschlüsselt sind, dann werden sie patentiert, und wenn wir die Materie auf Nanoebene zerlegen können, dann entsteht erst die Möglichkeit, die Materie auf Nanoebene zu privatisieren. Aber Machtverhältnisse verschieben sich auch. Wir haben technische Entwicklungen, die es uns erlauben, manche Dinge wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Etwa bei der Energieproduktion, die bisher hochgradig monopolisiert war. Viele Bürgerinitiativen setzen auf selbst finanzierte, selbst organisierte Solarkraftwerke oder auf die Selbstversorgung von ganzen Gemeinden. Es ist auch ein gutes Beispiel, wie der Staat das unterstützen kann, per Energieeinspeisegesetz. Oder wir haben die größte Kopiermaschine aller Zeiten zu Hause stehen – das Internet –, wir können Wissen reproduzieren, produzieren und wieder in die Debatte einspeisen.
Gerade das ist doch gerade in Deutschland nicht unumstritten …
Ja, ein gutes Beispiel ist die Patentverwertungsoffensive der Bundesregierung von Anfang dieses Jahrtausends – also, dass öffentlich gefördertes und finanziertes Wissen, das an unseren Universitäten entsteht, doch bitte schön möglichst rasch über das Patentrecht verwertet werden soll. Wir hingegen finden, was öffentlich war und öffentlich finanziert wurde, soll öffentlich bleiben. Die Universitäten werden unter einen wahnsinnigen Druck gesetzt, sich auf dem Markt attraktiv zu machen. Stattdessen sollte Open Access für alle Publikationen gefördert werden, die an öffentlichen Unis entstehen!
Noch ein Stichwort: freie Software. Warum sind da, beispielsweise, brasilianische Behörden aufgeschlossener als europäische?
Bei Regierungen des Südens wächst das Bestreben, die technische Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen – kein Wunder, wenn man alle drei Jahre eine Rechnung für Lizenzverträge von proprietärer Software für alle Rechner bekommt. Es ist ein Unterschied, ob man die Möglichkeit hat, selbst zu bestimmen, wann und wie man seine Software aktualisiert, wofür man sie einsetzt, ob man sie an die spezifischen Bedürfnisse der Verwaltung anpassen kann oder ob das von einem Konzern bestimmt wird. Ob man mit dem Geld, was man braucht, um die Rechner für die lokale Verwaltungen am Laufen zu halten, kleine Softwareunternehmen vor Ort ankurbelt oder es über Lizenzgebühren ins Ausland geht.
Also geht es doch wieder um Wirtschaftsinteressen …
Nicht nur. Die gegenwärtige Krise ist vor allem eine Krise des Denkens. Wir müssen weg von der Grundannahme des homo oeconomicus, die den Diskurs der letzten 40 Jahre bestimmt hat. Der Mensch ist viel mehr, er ist ein ein sozial eingebettetes Wesen: Erst wenn sich die anderen entfalten, wird meine Selbstentfaltung ermöglicht.
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