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Archiv-Artikel

Toter Winkel im Visier

Beim Abbiegen eines Sattelzugs starb 2003 ein Radfahrer. Wegen fahrlässiger Tötung musste sich gestern der Lkw-Fahrer vor Gericht verantworten. Verkehrsexperten: Solche Unfälle sind vermeidbar

Von Gitte Diener

Tagtäglich, auf Berlins Straßen: Ein Radfahrer will auf dem Radweg geradeaus über eine Kreuzung, ein Lkw-Fahrer zur gleichen Zeit rechts abbiegen – eine kritische Situation, muss der Fahrradfahrer doch hoffen, rechtzeitig gesehen zu werden. Meist geht alles gut.

Nicht am 13. Oktober 2003. Damals wurde ein 60-jähriger Radfahrer auf der Klosterstraße in Spandau übersehen. Der Fahrer eines Sattelzugs stößt beim Abbiegen mit dem Radler zusammen, dieser wird von den Rädern überrollt. Der Lkw-Fahrer Mike G. macht eine Vollbremsung – zu spät: „Ich habe den Fahrradfahrer erst gesehen, als er schon auf dem Boden lag.“ Der Radfahrer stirbt noch auf der Straße.

Gestern musste sich Mike G. wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten und wurde freigesprochen. Es sei nicht auszuschließen gewesen, so der Richter, dass der Fahrradfahrer die gesamte Zeit im sogenannten toten Winkel des Lkws war. Der Unfall hätte eventuell trotzdem vermieden werden können. Aber nur, wenn der Lkw-Fahrer vor der Kreuzung angehalten, aus dem Beifahrerfenster geschaut und erst dann in die Kreuzung zum Abbiegen gefahren wäre. Der Richter schloss sich in seiner Begründung dem Gutachten des Sachverständigen an. Die Staatsanwaltschaft wird Berufung einlegen. Sie forderte 50 Tagessätze à 30 Euro.

Benno Koch, Landesvorsitzender des ADFC und Fahrradbeauftragter des Senats, kritisiert derartige Urteile, bei denen Fahrradfahrer stets das Nachsehen haben: „Ich konnte ihn nicht sehen, darf keine Begründung sein.“ Koch fühlt sich durch solche Urteile in der alten Forderung des ADFC bestätigt: Ein vierter rechter Außenspiegel, der an Lkws zur Pflicht wird. Zumindest für alle neu zugelassenen Fahrzeuge gilt dies nun seit Ende Januar.

Der Spiegel vergrößere das Sichtfeld des Fahrers ganz erheblich, sagt Koch. Denkbar als Lösung sei zum Beispiel der sogenannte Dobli-Spiegel – mit 150 Euro eine sehr kostengünstige Lösung. Dieser ist ein Weitwinkelspiegel, der mit einem Halter an der rechten unteren Ecke der Frontscheibe festgemacht wird. In den Niederlanden habe dieses bereits 2003 eingeführte technische Hilfsmittel die Zahl der tödlichen Unfälle halbiert.

Auch Fahrradspuren würden die Situation der Radfahrer enorm verbessern, ergänzt der Experte des BUND für Verkehr und Umwelt, Martin Schlegel: „Abmarkierungen auf der Straße sind sicherer als baulich getrennte Radwege.“ Denn, so fügt Koch hinzu: „Der Blick des Lkw-Fahrers endet am Bordstein.“

Hansjörg Leser, Unfallsachverständiger im gestrigen Prozess, warnt davor, den vielbeschworenen vierten Außenspiegel als „Allheilmittel“ anzusehen. „Der Dobli-Spiegel schränkt zugunsten der indirekten Sicht die direkte Sicht nach rechts vorne ein“, so Leser.

Stattdessen spricht sich der Sachverständige für eine Ampelregelung aus, die Radfahrer vor Autofahrern eine Kreuzung überqueren lässt. Auch könne ein radargestütztes Kamerasystem helfen, Verkehrsteilnehmer im toten Winkel zu erfassen. Das Problem lösen könnte laut Leser allerdings auch ein völlig untechnischer Ansatz: In jedem Lkw könnte es einen geschulten Beifahrer geben, der mit einem Blick aus dem Fenster die Sicht klärt.