Mein wunderbarer Waschbeton

Je trüber der Himmel, desto besser: Andreas Muhs fotografiert die verschmähte Nachkriegsmoderne Berlins. Gemeinsam mit dem Architekturkritiker Oliver Elser will er wenigstens ihr Bild in der Internetsammlung restmoderne.de bewahren

VON NINA APIN

Die Tafel, die in einem Schaufenster der Torstraße 61 hängt, erinnert an einen Augenarzttermin. 22 fotografische Abbildungen sind in Reihen angeordnet, nach unten werden sie immer kleiner. Andreas Muhs steht vor der Tafel und kneift probehalber die Augen zusammen. „Es funktioniert“, stellt er fest. Obwohl Regentropfen über die Scheibe laufen, kann man alle Motive bestens erkennen: grüne Fernwärmerohre, die sich durch einen Wald schlängeln, ein schneckenförmiges Treppenhaus, eine große gemalte Sechs auf einer Hausfassade. Für Muhs ist besonders die Lesbarkeit der Webadresse wichtig. Denn www.restmodern.de ist ein Onlineprojekt und die bunte Schaufenstertafel sein einziges Aushängeschild.

Das Schaufenster auf der Torstraße gehört zum Büro des Webdesigners und Fotografen Christian Reister. Er stellt das Fenster mit Blick auf eine Bushaltestelle und das Café Burger jeden Monat Fotografierenden zur Verfügung, befreundeten, aufstrebenden, bekannten. Die 22 Treppenaufgänge, Spielplatzornamente, Parkhausdächer und Schulfassaden, die jetzt im Rahmen des europäischen Monats der Fotografie zu sehen sind, bilden nur eine winzige Auswahl aus der umfangreichen Materialsammlung, die Andreas Muhs zusammen mit dem Architekturkritiker Oliver Elser über die Jahre im Internet angelegt hat: „Wir haben bereits über 800 Bilder von 500 Objekten gesammelt“, erklärt Muhs, als er mit einem Glas Sekt die kleine Vernissage feiert.

Muhs und Elser fotografieren und archivieren Dinge, die in Berlin allgegenwärtig sind: eine Feuerwache in Charlottenburg, die tulpenförmige Plastikverschalung eines Lüftungsschachts in Spandau, den geschwungenen Schriftzug „Blumen Schneider“ an einem Laden im Wedding. Alles nach dem Krieg gebaut, alles Teil der architektonischen Nachkriegsmoderne, aber doch in keinem Architekturführer zu finden. Muhs und Elser haben sich zur Aufgabe gemacht, diese „Architektur unterhalb der Wahrnehmungsschwelle“ vor Ignoranz und Vergessen zu retten und öffentlich sichtbar zu machen. Bisher werden die Bilder nur auf restmoderne.de gezeigt, langfristig soll ein alternativer Architekturführer entstehen.

Die Idee entstand 2001 in einer Kneipe. Muhs und Elser, die sich bei einer Zeitungsreportage kennengelernt hatten, sprachen über Berliner Gebäude. „Es war wie Witzeerzählen mit Gebäuden: Kennst du den? Und den?“, erinnert sich Oliver Elser. Beide teilten dieselbe Faszination für das Besondere im Banalen. Für das hinter blaulackierten Treppengeländern verborgene Rund des Treppenaufgangs am Alex. Für die schrullige Extravaganz einer besonders hässlichen Fensterlösung an einem Wohnblock.

„Manchmal bleibt man fasziniert stehen und überlegt: ‚Was hat sich der Architekt denn dabei gedacht?‘ “, sagt Muhs. Die meisten Zeitgenossen würden diese Frage als Vorwurf formulieren. Muhs nicht. Er fängt sein Staunen möglichst spontan mit der Kamera ein. „Das Bild muss bei der ersten Konfrontation mit dem Objekt gemacht werden, nicht später.“

Zur Auflage hat er sich dabei gemacht, niemals mit Weitwinkel zu fotografieren, sondern nur Distanzansichten oder Details mit Normalobjektiv. Alle Fotos schießt er im Winter, wo keine grüne Vegetation die Aufmerksamkeit vom Objekt wegnimmt. Je trüber der Himmel, desto besser. Eine möglichst nüchterne Betrachtungsweise, die dem Alltagscharakter der Motive angemessen ist.

Restmodern.de ist kein Forum für die Inszenierung großer Architektur. Auf „Stars“ der Nachkriegsmoderne wie die Nationalgalerie oder das Haus des Lehrers verzichten die beiden Macher bewusst. „Diese Gebäude bekommen schon genug Aufmerksamkeit“, sagt Elser.

Als Architekturkritiker hat er sich immer wieder für bedrohte Symbole der Ostmoderne eingesetzt, wie das Ahornblatt, das Hotel unter den Linden oder den Palast der Republik. Doch seine eigentliche Leidenschaft gilt den hässlichen Entlein unter den Gebäuden in West und Ost. Wo die meisten Menschen einfach nur tristen Waschbeton sehen, sieht Elser genauer hin und entdeckt die zärtliche Haltung des Architekten zu seinem Objekt. „Wo die Form festgelegt ist, sind schon kleine Formänderungen eine Haltung“, erklärt er seine Vorliebe für klotzige Bürogebäude und schreiend bunte Plastikverschalungen. Dass manche seiner Lieblinge schlicht hässlich sind, weiß er dabei ganz genau. Aber selbst panzerhafte Brutalstarchitektur wie die Tierlaboratorien der FU in Steglitz haben in seinen Augen einen Reiz.

Doch allerorten geht es den Nachkriegsgebäuden an den Kragen. Der Palast der Republik ist geschleift, über den Abriss des ICC wird heftig diskutiert. Die Zeit läuft. Auch dem Toilettenaufgang am Alex droht sicher bald die Abrissbirne. Damit die Sammlung des vom Schwinden Bedrohten bald in Buchform erscheinen kann, sammeln Muhs und Elser im Internet Interessenten. Rund 200 haben sie bisher zusammen. Durch die Ausstellung bei „Fenster 61“ werden es hoffentlich bald viel mehr, hofft Andreas Muhs. Unter den Leuten, die jeden Tag gegenüber auf den Bus warten, finden sich bestimmt ein paar Geistesverwandte. Wenn sie weit genug sehen können.