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Archiv-Artikel

Ich bau mir ein Haus aus Gelatine

SCHMECKEN Der Architekt Zbigniew Oksiuta entwirft Räume aus Gelatine. Seine Vision ist biologische Architektur

Schmecken: Der süße Architekt

Marie-Antoine Carême war im Paris des 19. Jahrhunderts ein berühmter Koch. Er gilt als einer der Ersten, die sich der Haute Cuisine, der feinen französischen Küche, widmeten. Bei seinen häufigen Spaziergängen durch Paris entdeckte Carême seine Leidenschaft für Architektur und begann tagsüber Entwürfe in Bibliotheken zu studieren. Eine Verbindung von Architektur und Kochen schuf er durch seine Pièces montées. Jene waren essbare Nachbildungen von Tempeln, Pavillons, Brücken und Kaskaden, die der Tafeldekoration dienten. Sie wurden unter anderem aus Zucker, Teig, Nougat oder Wachs errichtet. Marie Antoine Carême arbeitete manchmal Wochen an der Vollendung einer einzigen Figur. Die Pièces montées Carêmes zeichneten sich durch eine schlichte Eleganz aus. Bis zu seinem Tod im Jahre 1833 schrieb Carême zahlreiche Kochbücher, wie beispielsweise „L’Art de la Cuisine Française“.

VON CAROLINA MACHHAUS

Im Schlaraffenland zergeht Wohnen auf der Zunge. Dort gibt es Dächer aus Eierkuchen und Türen aus Lebkuchen. Die Wände sind mit Schweinebraten tapeziert und die Zäune geflochten aus Bratwürsten. „Ein bisschen Schlaraffenland findet man auch bei Hänsel und Gretel und dem Lebkuchenhaus wieder. Genauer betrachtet ist dieses Haus eine revolutionäre Vision der biologischen und essbaren Architektur“, erzählt Zbigniew Oksiuta.

Der gebürtige Pole Zbigniew Oksiuta ist Architekt, Wissenschaftler und Künstler. Er arbeitet an einer modernen Umsetzung des Lebkuchenhauses. Aus Gelatine formt er kugelrunde Membranen namens „Spatium Gelatum“.

„Ich denke, Gelatine ist ein Material für die Grundlagenforschung, und vielleicht wird die Zukunft nicht aus Gelatine gebaut, aber um biologischen Bauweisen näherzukommen, ist das eine sehr gute Richtung“, erklärt Oksiuta seine Arbeit. „Aus einem einzigen Material könnte man Gebäude bauen, die unendliche Formen, Farben, Geschmäcker und Aromen haben“, sagt er begeistert.

Für die Herstellung braucht Oksiuta nur Gelatinepulver und kaltes Wasser. Die Mischung wird anschließend in Formen gegossen. So entstehen runde und hohle architektonische Körper, die an eine Luftblase unter Wasser erinnern. Manche Gelatinekugeln haben sogar einen Durchmesser von mehr als dreieinhalb Metern.

Die Verwendung von Gelatine als Baumaterial hat Zbigniew Oksiuta sich 2002 patentieren lassen. Damals plante er den Bau von Möbeln und sogar architektonische Bauten. „Gelatine erlaubt die Herstellung von amorphen, transparenten oder farbigen Formen. Aus einem Stoff könnte man geschlossene, farbige Wände und Decken schaffen und auch durchsichtige Flächen, die als Fenster dienen“, erklärt Oksiuta und erläutert, dass solche Formen, beispielsweise mit dem Material Glas, nur begrenzt möglich sind.

In den 1970er Jahren studierte Zbigniew Oksiuta in Warschau Architektur. Er fing an, nach einer Verbindung von Schmecken und Wohnen zu suchen, und entwickelte seine persönliche Vision von biologischer Architektur. Er träumte davon, Räume zu züchten. Jahre später entdeckt er Gelatine und ist seitdem fasziniert von der Vielseitigkeit des Materials. Es ist essbar, biologisch abbaubar und es besteht aus tierischen Resten wie Haut und Knochen. „Und diese werden in Gold umgewandelt, denn Gelatine sieht ein bisschen aus wie Gold“, erklärt der Architekt.

Viele Jahre lebt Zbigniew Oksiuta in Köln und arbeitet dort mit verschiedenen Wissenschaftlern zusammen. So hat zum Beispiel der Kölner Professor Hans-Henning Steinbiß, tätig im Bereich Biotechnologie, einmal mit ihm versucht, Gelatinekugeln herzustellen. Dieser glaubt allerdings nicht an das Potenzial von Gelatine, da seine Versuche gescheitert sind, Gelatine zu teuer ist und Tiere für die Herstellung geschlachtet werden müssen.

Steinbiß sieht die Zukunft von Biomaterialien in der modernen Architektur vielmehr im Einsatz von Kartoffelstärke und Naturfasern. „Mir hat es Spaß gemacht, für kurze Zeit in Oksiutas Fantasiewelt einzutauchen. Mir hat gefallen, dass er den Mut hat, sich von konventionellen Denkweisen zu lösen und zu fantasieren. Vielleicht sind große Fortschritte in der Geschichte der Menschheit so entstanden“, erklärt Steinbiß.

Derzeit hat sich Zbigniew Oksiuta der Lehre verschrieben. Er arbeitet mit einer US-amerikanischen Universität und deren Studenten im Bundesstaat New York an der Weiterentwicklung seiner Vision.

Zbigniew Oksiuta sieht in seinen Experimenten mit Gelatine einen wichtigen Faktor hin zu einer biologischen Umwelt und bestätigt Steinbiß’ Haltung. „Wir müssen als Architekten völlig neue Wege gehen und völlig neue Methoden entwickeln. Und das bedeutet, Architektur von Anfang an anders zu betrachten und neue Materialien zu suchen. Es ist nicht nur Kunst oder Zukunft – es ist eine Verantwortung! Und es ist Realität.“