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Archiv-Artikel

Die Lust schlürft mit

Die Auster, in Europa meist ungegart, also lebend verspeist, ist auf bestem Weg, zum dekadenten Fastfood zu werden

VON TILL EHRLICH

Die Auster ist in der Kulturgeschichte weit gekommen. Von ganz oben nach ganz unten. Eine geöffnete Auster bietet sich in ihrer Anmut und Wehrlosigkeit an wie ein Geschlecht, sie wurde von den römischen Kaisern geschätzt als erotisches Stimulans und Objekt der Begierde bei rauschhaften Gelagen und hemmungslosen Orgien. In der Renaissance begann ihr neuzeitlicher Aufstieg, sie avancierte bei Hofe zum Inbegriff kulinarischer Lüste, venushafter Sinnlichkeit und meereskühler Luxussymbolik, im Rokoko wurde sie als Liebesfrucht verehrt. Auch vom emporstrebenden Bürgertum wurde die begehrte Muschel als höchste kulinarische Weihe adaptiert, wobei freilich das Bacchantische der schlüpfrigen Auster keusch unterdrückt wurde. Lieber dozierte man über den meeresfrischen Geschmack des salzigen Muscheltiers denn über den heimlichen Schauder, den die Einverleibung des lebenden Weichtieres auslöst. Zuletzt haben die Austern das Kleinbürgertum erreicht – zu besichtigen jeden Samstag im Dunstkreis der Austernbar im KaDeWe in Berlin. Die Austern sind in den Niederungen angekommen. Fast. Sie warten darauf, dass Aldi sich ihrer annimmt und sie mit gönnerhafter Geste für 99 Cent dutzendweise unters Volk wirft.

Auch der neue Berliner Hauptbahnhof schmückt sich mit einer Austernbar. Als Architekt Meinhard von Gerkan den Prozess um das Urheberrecht gegen Bahnhofs- und Architektenkastrierer Hartmut Mehdorn in erster Instanz gewonnen hatte, feierte er in der Austernbar seinen Pyrrhussieg und gab lässig dem Feuilleton der FAZ ein Interview. Bei Austern und Schampus. Doch dann kam Orkan „Kyrill“, der einiges umstürzen ließ, und seitdem gilt der Architekt in Schirrmachers Hofstaat nur noch als Hochstapler, der das handwerkliche Einmaleins angeblich nicht beherrscht und keinen sturmfesten Bahnhof bauen konnte. Austern mögen gewiss schillernde und wertvolle innere Werte haben, doch Glücksbringer sind sie offensichtlich nicht.

So kann allein der Versuch, eine Auster zu öffnen, böse enden. Den dilettierenden Anfänger vermag eine einzige Auster gefährlich zu verletzen, etwa wenn die Klinge des Messers an der harten, schorfigen Schale abrutscht. Dagegen weiß der routinierte Austernesser genau, wo er zustechen muss, er kennt die verletzliche Stelle, die das Messer durchtrennen muss, das so genannte Schloss. Aber auch die Austernschale kann zur Waffe werden. Wer eine Auster tumb zertrümmert, kann sich an ihren Splittern schneiden wie an zerbrochenem Glas.

Zweifellos, die Austernesserei beginnt stets mit einem Akt äußerster Gewalt. Nur die geschlossene Auster gilt als essbar, die geöffnete bereits als verdorben. Wer sie trotzdem isst, kann sich eine Eiweißvergiftung einhandeln, die mitunter tödlich enden soll. Im Muschelinneren bietet sich ein irisierender Anblick, der vom Lüster des Perlmutts ausgeht. Das kristalline Muschelbett bricht das Licht in sein ganzes Spektrum auf, und der regenbogenartige Glanz unterstreicht das Gefühl, dass wir auf ein kostbares Innenleben schauen. Doch der Lichtzauber interessiert den gewöhnlichen Austernesser kaum. Er würdigt das schimmernde Muschelbett kaum eines Blicks. Sobald er das Muschelfleisch herausgeschnitten hat, wirft er die Schalen achtlos weg. Sein lüsternes Interesse gilt nicht dem Perlmutt oder einer verborgenen Perle, sondern dem Fleisch. Es ruht von Meerwasser bedeckt in der tieferen der beiden Schalen, dem sogenannten Bauch. Die Kiemenblätter erinnern an große schwarze Augenwimpern und betonen die Anmut des nun schutzlosen Tiers.

Die Auster gilt als weiblich, der Esser als männlich. Ein fundamentaler Irrtum. Die molluske Muschel ist ein Zwitter, sie kann jedes Jahr ihr Geschlecht wechseln, je nachdem, wie es der biologische Lebenszyklus am Meeresgrund erfordert. Auch der Austernfan ist nicht zwangsläufig ein Mann. Neulich sah ich in der Austernbar des Kaufhauses Lafayette in Berlin eine 20-Jährige. War sie von der Werbetafel am Eingang gelockt worden, die „Austern für alle“ zum Schnäppchenpreis versprach? Keineswegs. Sie absolviere gerade eine strenge Austerndiät, erwiderte sie und bestellte ein halbes Dutzend bretonischer Austern der Sorte „Fine Claire“ sowie eine kleine Flasche Perrier. Das macht durchaus Sinn, denn das Muschelfleisch besteht fast ausschließlich aus Wasser und muskulösem Eiweiß und enthält so gut wie kein Fett. So verwundert es nicht, dass Austern unter Verdacht stehen, gesund zu sein. Die junge Frau entpuppte sich als Kennerin, sie handhabte die Austern mit geübtem Griff, drückte eine Zitronenspalte über dem Muschelfleisch aus und schlürfte es rasch, aber genießerisch aus der Schale. Schon zehn Minuten später verlangte sie die Rechnung. Sind Austern das dekadente Fastfood der Zukunft?

Seltsamerweise gilt es als männlich, den natürlichen Widerstand der Schale zu brechen, und ihr Inneres lebendig zu verschlingen. Meistens geschieht dies in Unmengen. Der Liebhaber zählt gern auf, wie viele Austern er auf einmal vertilgt habe. Der Genuss wird im Dutzend gemessen. Honoré de Balzac soll mittags 100 Stück verspeist haben, Sonnenkönig Ludwig XIV. gar 400 vor seiner Hochzeitsnacht. Hier geht es um Völlerei, und die dabei entfesselte Gier steht im Kontrast zum kostbaren Inneren der Muschel. Wer zu viele Austern verspeist, bekommt, so heißt es, einen Eiweißschock. Deswegen erzählen erfahrene Austernschlürfer gern, auch sie hätten mal klein angefangen, mit einem halben Dutzend Tierchen.

Hier spätestens stellt sich die Frage, was der Genussmoment beim Austernkonsum nun wirklich sei. Der Akt des Verschlingens fußt auf unbewussten erotischen Fantasien. Er beruht einmal darauf, dass der Akt schierer Gewalt übersehen werden muss. Zudem bildet das Weichtier Schleim, wenn es mit der Säure des Zitronensafts in Berührung kommt. Der Schleim wird unterschwellig als Bereitwilligkeit und Einverständnis gesehen: Die Auster ist feucht, also willig, die geöffnete Auster wird zum erotischen Objekt. Erst dieser Akt erlaubt uns das Verschlingen des lebenden Tiers, ähnlich wie die Schlange nur lebende Beute verschlingt. Allerdings gehorcht die Schlange ihrem Instinkt, der Mensch seinem Trieb. Hier muss der Andere erst zum erotischen Objekt werden, dessen Einverständnis die fließenden Säfte signalisieren. Der Akt der Austernschlürferei geht in der Fantasie auf, eine lebende Auster als geschlechtliche Substanz oder Essenz zu verschlucken. Darauf beruht die Legende, die lebendige Auster stärke die Manneskraft.

Auch beim Verschlingen ist ein kultureller Trick zu beobachten: Der Schlürfer kaut nicht, er schluckt. Das Kauen würde die Prozedur in den Bereich der Fleischfresserei rücken und als barbarischen und kannibalischen Akt entwerten. Es geht dabei eben nicht zuerst um geschmackliche Feinheiten. Um den Geschmack des Muschelfleisches in seiner ganzen Breite wahrzunehmen, muss man es kauen. Erst im Biss werden die drei geschmacklichen Texturen des muskulösen Austernfleisches spürbar: intensive Salzigkeit, kühles Jod und manchmal ein süßlicher Hauch.

Die Gier nach Austern erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt, nie zuvor wurden so gewaltige Mengen verzehrt. Erst als um 1850 alle natürlichen Austernbestände vernichtet waren, wurde die Austernzucht ernsthaft betrieben. Zum Verhängnis war den wilden Austern geworden, dass sie sich fest und schicksalhaft an den Meeresgrund binden. Das Muscheltier lebt unbeweglich in Kolonien am Grund, es kann nicht wie ein Fisch ins freie und offene Gewässer entfliehen. So konnten die wilden Austern an den Buchten und Stränden im flachen Wasser bei Ebbe bequem gesammelt werden. Was der Raubbau übrig ließ, vollendete die Industrie, denn die Muschel filtert das Meerwasser; Abwässer und Verunreinigungen bedeuten für sie den Tod. Heute kommen alle kulinarischen Austern aus Austernfarmen. Die Aufzucht einer Auster dauert vier bis fünf Jahre, eine lange Zeit und ein hoher Einsatz für die Intensität eines Genusses, der nur wenige Augenblicke währt.

TILL EHRLICH, 42, ist Autor und lebt in Berlin