Er kam, blieb und siegte

VON CIGDEM AKYOL

Auf dem Integrationsgipfel im letzten Juli stand Kemal Sahin lachend hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber es war kein geschäftsmäßiges Lächeln – Kemal Sahin strahlte. Überhaupt lacht der Türke sehr viel. Wer ihn trifft, wird herzlich empfangen – und freundlich angelächelt.

Verständlich, denn Trübsal blasen muss Kemal Sahin nicht. Er zählt Altbundeskanzler Gerhard Schröder und den türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdogan zu seinen Freunden. Er ist Präsident der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer und Inhaber eines Textilunternehmens mit einem Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro. Trotzdem kennt ihn kaum jemand in der Bundesrepublik. Sahin bleibt lieber im Hintergrund. Wer ihn sprechen will, muss ein halbes Jahr warten. Der 51-jährige Geschäftsmann ist ständig auf Reisen.

Die Türkei sei ein Tiger und längst kein kranker Mann mehr. Sagt Kemal Sahin und meint die erfolgreiche Transformation der türkischen Volkswirtschaft, die davon träumt, in nicht allzu weiter Ferne vollwertiges Mitglied der Europäischen Union zu sein. Sahin muss es wissen, denn der schlanke Türke mit dem grauen, kurzen Haar gehört zu den erfolgreichsten Unternehmern in Deutschland. Etwa 12.000 Angestellte in 27 Filialen weltweit arbeiten für ihn. Die Sahinler Gruppe produziert und vertreibt jährlich 50 Millionen Bekleidungsstücke. „Alle größeren Unternehmen, ob C&A, Karstadt, Hennes&Mauritz, OTTO oder Quelle, werden von uns bestückt“, sagt er leise und bemüht sich um Bescheidenheit. Er mag es nicht zu protzen. Wer etwas über den Textilzaren aus Würselen bei Aachen erfahren möchte, muss ihn löchern. Freiwillig gibt er wenig Auskunft über sich, Sahin arbeitet lieber.

Deutschland ist sein wichtigster Markt, hier macht Sahins Unternehmen 25 Prozent seines Umsatzes. Dabei stagnieren die hiesigen Geschäfte derzeit, während in anderen europäischen Ländern und den USA gerade expandiert wird. Neben dem Hauptunternehmen in der Textilbranche umfasst sein Reich ein Energieunternehmen, einen Catering-Service und einen Tourismusbetrieb. Die Sahinler Group rangiert an 24. Stelle der weltweit größten Textilunternehmen.

Sahins bisheriges Leben ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie hierzulande immer noch selten ist. Seine Biografie führt von der Schilderung, wie er als Sohn eines Schafhirten in einem abgelegenen Ort in den Bergen Anatoliens aufwächst, geradewegs zum Aufstieg eines erfolgreichen Unternehmers. Mit einem Stipendium kam der Türke 1973, gerade 18 Jahre alt, zum Studium nach Deutschland. Es war der Tag, an dem sein altes Leben endete und sein neues begann. Kemal Sahin reiste mit einem Koffer, zwei Päckchen Zigaretten und etwas Geld ein, ohne jemanden zu kennen. „Ich hatte keine Erfahrung in einem westlichen Land. Ich kam aus armen anatolischen Verhältnissen. Das war ein Kulturschock für mich“, erzählt er lachend. Trotz dieser Startschwierigkeiten sei ihm Aufgeben nie in den Sinn gekommen. Neun Jahre später beendete Sahin sein Ingenieursstudium in Aachen. Mit Erfolg. Anschließend wurde er aufgefordert, das Land zu verlassen.

Nur mit der Gründung eines eigenen Geschäfts würde er seine Abschiebung verhindern können. Und weil er nicht zurück wollte in sein Heimatdorf in den Bergen Anatoliens, machte er sich selbstständig. Mit einem Startkapital von 5.000 Mark, die er sich im Bergbau erarbeitet hatte, öffnete der Türke ein Geschäft in der Aachener Heinrichsallee. Der 30 Quadratmeter große Laden war nicht mehr als eine Notlösung. Sahins erste Kunden waren ausländische Arbeitsmigranten, die in Aachen lebten und arbeiteten. Neben Gebetsteppichen und Elektrogeräten hatte er auch schlichte weiße T-Shirts im Sortiment. Diese waren ein absoluter Verkaufsschlager. Bereits zwei Jahre später machte sein Laden einen Umsatz von zehn Millionen Mark.

1997 wurde er für seine Leistungen vom Manager-Magazin zum „Unternehmer des Jahres“ gekürt. „Ich habe Disziplin, Pünktlichkeit, Gründlichkeit und Organisationsgeschick immer mit meinen türkischen Tugenden kombiniert: Flexibilität, Kreativität, Risikobereitschaft“, erklärt Sahin seinen Erfolg.

Auch sein privates Leben verläuft, so weit bekannt, harmonisch. 1983 heiratete Sahin eine Türkin, die in Deutschland aufgewachsen ist. Ihre drei gemeinsamen Kinder besuchten den Kindergarten und wurden darüber hinaus von einem deutschen Kindermädchen betreut. Gleichzeitig bekamen sie aber auch die türkischen Werte vermittelt. „Typisch türkisch sind bei uns zu Hause unsere Essgewohnheiten, die Musik und einige familiäre Normen und Werte.“

Kemal Sahin betrachtet die Türkei als seine emotionale Heimat, Deutschland hingegen als seinen geschäftlichen Hafen. Identitätsprobleme habe er nie gehabt, sagt er. Es habe vereinzelte Fälle von Diskriminierung gegeben. Mehr will Sahin dazu nicht sagen. Von der deutschen Gesellschaft fordert er aber mehr Toleranz. „Wir Migranten sind schließlich keine Minderheit mehr in diesem Land.“

Doch wenn Deutschland über seine „Ausländer“ redet, geht es meist um Probleme: Rütli-Schüler, Ehrenmorde, Perspektivlosigkeit. Dass gewaltige Probleme existieren, steht auch für Kemal Sahin außer Frage. Ein Drittel der heute Sechsjährigen stammt aus Einwandererfamilien. Aber gerade mal 40 Prozent der Einwandererkinder schaffen einen Hauptschulabschluss, 20 Prozent nicht einmal das. Die Arbeitslosigkeit unter „Ausländern“ liegt bei etwa 23 Prozent. Über die Mehrheit jedoch wird nach Sahins Dafürhalten viel zu selten gesprochen: über jene, die arbeiten, in das deutsche Sozialsystem einzahlen und ein völlig unauffälliges Leben führen.

Wegen dieser einseitigen Darstellung fühlt sich Sahin Migranten gegenüber besonders verpflichtet. „Die Ausbildung ist Teil meines Erfolgsrezepts“, erzählt er. Als sein Unternehmen zu expandieren begann, benötigte Sahin immer mehr Fachkräfte. Deutsche Arbeitssuchende gab es genug, er aber wollte auch junge Türken einstellen, von denen damals aber kaum jemand eine Ausbildung hatte. „Also legte ich die Ausbildereignungsprüfung ab und begann meine Fachkräfte selbst auszubilden. Heute sind einige von ihnen Manager“, erzählt er stolz und lacht wieder.

Heute haben 40 Prozent seiner Auszubildenden einen Migrationshintergrund. Von diesen habe er immer profitiert, sagt der Geschäftsmann. Schiebt aber gleich hinterher, dass sie größere Startschwierigkeiten hätten. Sie seien öfter unpünktlich oder würden unentschuldigt fehlen. „Sie müssen die Spielregeln lernen“, sagt Sahin. Er verlangt von den Migranten eine stärkere Anpassung. „Denn eine Ghettoisierung kann nur zu einem Scheitern führen.“ Deswegen empfiehlt er jungen Migranten, zu lernen und sich nicht von Vorurteilen irritieren zu lassen. „Man sieht immer nur die türkischen Ghettos der Großstädte und lässt die Erfolgsfälle derjenigen, die längst integriert sind, unter den Tisch fallen“, kritisiert er.

Kemal Sahin glaubt aber auch an eine Mischkultur. Seine Kinder sind in der Türkei, in England und auch in den USA zur Schule gegangen. Dadurch hofft er, dass sie Menschen ohne Vorurteile werden. „Den Leuten, die in Deutschland bleiben wollen, würde ich raten, sich fortzuentwickeln. Dabei sollen sie auch ihre türkische Sprache und ihre Kultur erweitern. Die Sitten in der Türkei, der Familienzusammenhalt, das sind Werte, die unsere Gesellschaft reichhaltiger machen. Auch die Deutsche.“