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Archiv-Artikel

Zehn Tage Caracas

REISEBERICHT Eindrücke eines Schriftstellers aus dem Reich des Hugo Chávez

Ulrich Enzensberger

Schriftsteller: Enzensberger ist 67 Jahre alt und lebt in Berlin.

Reise: Er besuchte auf Einladung der deutschen Botschaft vom 6. bis 16. Februar 2011 die venezolanische Hauptstadt Caracas. Dort sprach er vor Schülern der Deutschen Schule (Colegio Humboldt) und Studierenden der Universidad Simón Bolívar, der Universidad Central de Venezuela und dem Goethe-Institut.

Bücher: Dabei stellte er seine Werke vor: „Georg Forster. Ein Leben in Scherben“, „Die Jahre der Kommune I“ und „Parasiten“ (eine Verteidigung des klassischen Parasiten im Stile Lukians)

VON ULRICH ENZENSBERGER

Die gigantische rote Nestlé-Tasse auf dem Dach der Torre Phelps an der Plaza Venezuela ist verschwunden. Im Geburtshaus Simón Bolívars, im Zimmer neben dem aufgeschlitzten Zinksarg, beugen sich auf einem Video Experten mit Mundschutz über die sterblichen Überreste des Helden, als bereiteten sie eine Heiligsprechung vor.

Der verstaatlichte Hotelturm „Humboldt“ am Hang des Ávila, hoch über der Drei-, Vier- oder Fünfmillionenstadt, rottet vor sich hin. Sonntagsausflügler beleben das leer geräumte Vestibül. Der Konzertflügel ist in die Ecke geschoben worden, und der Fernseher in der Bar, deren Vorhänge zugezogen sind, bringt Latino-Schnulzen. Es riecht nach dem alten Ostberlin. Ich wohne in Chacao, einem besseren Viertel östlich des Country Clubs, aber von der Terrasse des streng bewachten Apartmentblocks aus sieht man sich von Resten ineinander verschachtelter Häuschen und Werkstätten umgeben. Um 5 Uhr früh beginnen Dutzende von Hähne zu krähen.

Auf die Schüler des Colegio Humboldt, der deutschen Schule, wirkt der Name Humboldt wie eine Schlaftablette. Ich verpasse die einmalige Chance, die erotischen Neigungen dieses großen Mannes ins rechte Licht zu setzen, und spreche über mein altes Thema Georg Forster, seinen Freund, der 1793 die erste deutsche Republik organisierte. Hinterher wollen die Schüler wissen, wie es in der Kommune 1 in Berlin Ende der 60er war.

In der außerhalb der Stadt gelegenen, technisch ausgerichteten Universidad Simón Bolívar, der die Regierung den Geldhahn zudrehte, halte ich einen Vortrag über 1968 in Westberlin. Meine Zuhörer können sich die Begeisterung manch deutscher Venezuela-Besucher über den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nicht erklären.

Die unabhängige venezolanische Studentenbewegung ist jetzt vier Jahre alt. Sie hat Knüppeln, Gummigeschossen, Tränengasgranaten und Kugeln getrotzt. Regierungskritische Demonstranten wurden erschossen, die maskierten Täter aber nicht zur Rechenschaft gezogen. Vor dem Gebäude der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) befanden sich Studenten eine Zeit lang im Hungerstreik. Sie forderten die Einreise von Menschenrechtsbeobachtern.

Ich spähe durch eine bewachte Einfahrt des Präsidentenpalastes Miraflores, aber die vom „comandante presidente“ dort einquartierten Obdachlosen, deren armselige Hütten sintflutartige Regengüsse weggeschwemmt haben, sind nicht zu sehen. Auch die aufgehängte Wäsche ist weg.

Ein bereits abgewähltes Parlament hat mit Hinweis auf die Wetterkatastrophe ein „Ley Habilitante“ abgesegnet, ein Ermächtigungsgesetz, das dem Präsidenten bis zur nächsten Wahl das Regieren per Dekret gestattet. Er war vor über zwölf Jahren, zu einer Zeit, als das Barrel Rohöl noch 12 US-Dollar kostete, an die Macht gelangt. Zurzeit kostet es über 100 US-Dollar. Im Autoradio ist auf allen Sendern eine „cadena“ zu hören, eine seiner endlosen Reden, über eine Revolution, die nie stattgefunden hat.

Ich schwebe in der Gondel einer nagelneuen österreichischen Seilbahn über einen Barrio, einen Slum, unvergleichlich elender als die Gecekondular von Ankara. Auf der Suche nach dem Paseo Los Próceres, einem gigantischen Monument, das der Diktator Jiménez 1956 errichten ließ, geraten wir in den größten venezolanischen Militärkomplex, den Fuerte Tiuna. Auf dem Paradeplatz nehmen behelmte Soldaten unter der heißen Sonne in kleinen Karrees Haltung an und starren blockweise in verschiedene Himmelsrichtungen.

Mit dem vorübergehenden Fall des Ölpreises im vergangenen Jahr war der Zucker aus den Läden verschwunden. Nun hat die ägyptische Revolution den Preis wieder auf über 100 US-Dollar pro Barrel getrieben, und der Zucker ist zu einem staatlichen Festpreis von 3,73 Bolívar pro Kilogramm in die Läden zurückgekehrt. Der Mindestlohn beträgt 1.223,89 Bolívar. Große Plakatwände verkündeten eine Steigerung der Milchproduktion um einen riesigen Prozentsatz, doch auf den Milchtüten finden sich meist die Namen anderer lateinamerikanischer Staaten. Die Inflation liegt bei 28 Prozent. Ein US-Dollar kostete offiziell 4,3 Bolívar, aber auf dem Schwarzmarkt das Doppelte.

Die Vitalität der von Carlos Raúl Villanueva zwischen 1940 und 1969 erbauten Universidad Central de Venezuela ist ungebrochen. Die Regierung hat ihr fast alle Gelder gestrichen, aber die unvergängliche Modernität der im Herzen von Caracas liegenden Universitätsstadt, auf deren Gelände auch sonntags gelehrt und gelernt, getanzt, musiziert und kuriert wird, schlägt alles, was ich aus Deutschland kannte. Mein Thema ist wieder „1968“. Ich legte mein Konzept beiseite und spreche frei. Ein Zuhörer fragt mich, ob ich mir einen Militär in Uniform als Staatschef vorstellen könne. Der Präsident ist bei einer Volksbefragung über eine umfassende Verfassungsänderung gescheitert, durch die er auch unmittelbarer Befehlshaber aller Streitkräfte werden wollte. Hinterher hat er sich durch Parlamentsbeschluss doch noch zum Oberkommandierenden küren lassen.

Im Autoradio ist eine „cadena“ zu hören, eine seiner endlosen Reden, über eine Revolution, die nie stattgefunden hat

Ich habe das Glück, in der Aula Magna der Universidad Central die 3. Sinfonie von Gustav Mahler zu hören, dirigiert von Gustavo Dudamel. Anlass ist das 36-jährige Bestehen von „El Sistema“, einem seit 1975 staatlich subventionierten sozialen Musikprogramm, das Kinder aus armen Familien fördert. Seine über 500 Orchester und mehr als 1.700 Chöre haben Venezuela zu einem Mekka der Musik gemacht.

Das Konzert wurde verschoben. Zum vorgesehenen Termin hatte Hugo Chávez die Aula für sich und eine Rede reklamiert. Es spielt die Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar. Michelle De Young und hunderte von Jugendliche und Kinder singen. Der Schöpfer von „El Sistema“, José Antonio Abreu, steigt auf die Bühne. Als Ausländer eine solche nationale Manifestation unter „The Clouds“ von Calder mitzuerleben – es gibt nichts Schöneres! Und hinterher in der lauen Nacht das Stimmengewirr zwischen den Murales von Vasarely, Wifredo Lam und den Skulpturen von Henri Laurens und Jean Arp.

Caracas gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Die Mordrate wird geheim gehalten, aber eine amtliche Zahl ist durchgesickert: 19.133 Morde in Venezuela 2009. Tagsüber kann man im Stadtinneren durchaus spazieren gehen, trotz der fast überall miserabel bezahlten und korrupten Polizei und trotz des lebensgefährlichen Verkehrs. Das Benzin kostet etwa 3 Cent pro Liter, die Reifen der meisten Pkws und der Laster sind völlig abgefahren. Ansichtskarten suche ich vergebens.

Im Goethe-Institut gibt es eine sehr leckere Gemüsesuppe in Fleischbrühe und herzhafte fleischgefüllte Empañadas. Ich spreche über mein Lieblingsthema „Wir Parasiten“. Nachdem ich klargestellt habe, dass ich mit meinem „Wir“ den Anwesenden keineswegs zu nahe treten will, hebt sich schlagartig die Stimmung. Die deutliche Abfuhr, die ich der seit 60 Jahren kolportierten Meinung erteile, die Venezolaner seien Parasiten des Erdöls, tut den Rest. Zum ersten Mal erringe ich für unsere Sache auf fremdem Boden einen zwar kleinen, aber glänzenden Sieg. Am Ende ist man sich einig. 2010 ist die Ölproduktion nach amtlichen Angaben mit 2,78 Millionen Barrel pro Tag unter das Niveau von 1998 gesunken. Zwei Drittel der Nahrungsmittel werden importiert. Der Anteil des Rohöls am Exporterlös liegt bei 90 Prozent.

Bei einem Abstecher in das Orinocodelta treffe ich auf dem Río Buja auf zwei Indiokinder. Sie kommen in einem kleinen Einbaum herangerudert. Das größere hat nichts, das kleinere eine zerrissene Hose an. Ratlos schenke ich ihnen mein Taschenmesser. Auf der Rückfahrt säumte nach einem Militärposten eine verrostete Pipeline die schnurgerade Straße. Es ist das Einzige, was ich von der Erdölproduktion zu sehen bekam in einem Land, das über 296.500 Millionen zertifizierte Barrel Rohöl und damit über die zurzeit größten Erdölvorkommen der Welt verfügt.