: „Widerstand ist nie hübsch“
Tariq Ali über die linke Hoffnungszone Lateinamerika, Hugo Chávez‘ Geistesverwandtschaft mit Willy Brandt, den Aufstieg des Islamismus und die Wandlung mancher seiner Ex-Weggefährten zu Stichwortgebern des Imperialismus
taz: Herr Ali, Lateinamerika ist neuerdings wieder Hoffnungszone der Linken: Es gibt Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien. Gibt es einen neuen antiimperialistischen Moment?
Tariq Ali: Die Lateinamerikaner nennen es einen neuen bolivarischen Moment. Simon Bolivar hat diesen Kontinent vor zweihundert Jahren geeint und das spanische Imperium zurückgedrängt. Nun geschieht Ähnliches, demokratisch, ohne Krieg, ohne Schlachten: Das Imperium, das die Spanier ablöste, wird zurückgedrängt.
Also die USA?
Das ist das Ziel, ja. Ein ganzer Kontinent gerät in Bewegung. Das vielleicht Wichtigste daran: Es ist ein Kontrast zu dem Chaos im Nahen Osten. Dort – in Afghanistan, im Irak, im Libanon, in Palästina – kämpft der Widerstand, damit die Besatzer das Land verlassen. Das ist fein, aber eine soziale Vision hat dieser Widerstand nicht. In Lateinamerika dagegen ersteht die soziale Vision wieder.
Was ist das für eine soziale Vision?
Zugegeben, sie ist moderat. Wir sollten nicht übertreiben. Es ist die Vision, die historisch die Vision einer linken Sozialdemokratie war. Chávez, Morales, Ortega gehen darüber nicht hinaus. Sie bekämpfen den Neoliberalismus mit klassischen sozialdemokratischen Mitteln. Nur: Heutzutage sind die inakzeptabel für die neoliberale Welt. Was in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg normal war, ist heute nicht mehr erlaubt.
Hugo Chávez gibt den Caudillo, den Revolutionsführer im Drillich– und Kuba ist ja auch nicht das Modell des demokratischen Sozialismus …
Was ist das Modell des demokratischen Sozialismus? Deutschland? Die EU? Es gibt kein vernünftiges Modell auf diesem Planeten, das die Hegemonie der USA herausfordert. Diese Herausforderung kommt allein aus Lateinamerika. Klar, das ist nicht Utopia. Lateinamerikas neue Führer versuchen, etwas Positives für die Armen zu tun, mit den beschränkten Mitteln, die sie zur Verfügung haben.
Vor autoritären Versuchungen haben Sie keine Angst?
Chávez wurde fünf Mal gewählt. Fünf Mal. Er respektiert die Opposition, die gesamte private Presse ist gegen ihn, aber er lässt sie gewähren. Ist das etwa autoritär?
Er sieht nur wie ein Caudillo aus?
Ich kenne ihn ziemlich gut, ich habe ihn oft getroffen. Er ist ein intelligenter Politiker. In Europa gab es in der Nachkriegszeit kluge Politiker: Harold Wilson, Olof Palme, Willy Brandt, Charles de Gaulle, Bruno Kreisky …
Chávez ist mit denen vergleichbar?
Er liest enorm viel, Romane, Sachbücher, Lyrik. Seine Eltern waren Lehrer, sie haben ihn die Liebe zu Büchern gelehrt. Gerade hat der venezolanische Staat Cervantes’ Don Quichotte in millionenfacher Auflage gedruckt und jedem Haushalt zugestellt. Als man Chávez fragte, ob er wirklich glaube, dass die Leute das lesen, sagte er, er wisse es nicht, aber es befände sich zumindest ein Buch in dem Haus, und vielleicht liest es dann einmal ein Kind oder ein Enkelkind. Das ist bemerkenswert. Klar, er ist ein lateinamerikanischer Politiker. Er hat eine Reihe von deren Qualitäten und auch ein paar von deren Defekten. So ist das nun mal.
Lateinamerika ist, wie Sie sagen, das Kontrastmodell zum Nahen Osten. Im Nahen Osten wurde der Antiimperialismus vom Fundamentalismus regelrecht gekapert. Ziemlich deprimierend, oder?
Wenn ein Land besetzt ist, dann entwickelt sich früher oder später Widerstand. Wir können uns nicht aussuchen, wie dieser Widerstand aussieht. Zumal der säkulare Widerstand ausgerottet ist, nicht ohne Zutun der USA übrigens, die das im Bündnis mit den Islamisten während des Kalten Kriegs besorgten. So waren nur mehr die Islamisten da, auch weil viele säkulare Kräfte diskreditiert waren. Gerade deshalb ist es wichtig, dass jemand wie Chávez die globale Bühne betrat, einer, der sich dem Imperialismus entgegenstellt, einer aus einem ölreichen Land, der einiges tut, damit der Reichtum auch den Armen zu Gute kommt. Ich weiß, es gibt Hunderttausende im arabischen Raum, die sagen, „wann kommt endlich ein arabischer Chávez“. Und warum sagen sie das? Weil er eine soziale Vision hat, die der religiöse Fundamentalismus nicht hat.
Haben die säkularen Kräfte eine Chance?
Nicht so bald, nicht im Nahen Osten. Wir müssen durch diese Phase durch. Ich denke, unglücklicherweise ist es so, dass die Leute die Erfahrung machen müssen, wie es ist, wenn die religiösen Typen an der Macht sind. Nur ein Land ist die Ausnahme: der Iran. Wenn der Westen das Land in Ruhe lässt, können wir mit positiven Entwicklungen rechnen. Dort sind 75 Prozent der Bevölkerung unter 35, sie kennen nichts anderes als ein Leben unter den Klerikern. Sie haben die satt. Nur, wenn der Westen das Land bedroht, wird es einen nationalistischen Reflex geben. Also, Hände weg!
Gibt es eine Chance auf eine islamische Reformation?
Ja, vielleicht kommt so etwas im Iran. Vielleicht gibt es aber auch einen totalen säkularen Aufstand, der die Religion zurückdrängt. Auch das ist möglich.
Wenn Sie den Widerstand in diesen Ländern unterstützen, stehen Sie Seite an Seite mit Hamas oder Hisbollah. Fühlen Sie sich da nicht in merkwürdiger Gesellschaft?
Man sollte sich Unterscheidungsfähigkeit bewahren. Hamas und Hisbollah sind etwas anderes als al-Qaida. Hamas und Hisbollah sind organisch aus ihren Gesellschaften gewachsen. Ich würde mir wünschen, dass sie keine religiösen Gruppen wären. Aber meine Wünsche sind irrelevant.
Zu analysieren, warum diese Gruppen entstanden sind, ist eine Sache. Aber finden Sie, dass irgendetwas durch sie besser wird?
Besatzung produziert Widerstand. Je hässlicher die Besatzung, desto hässlicher der Widerstand. Wo gibt es hübschen Widerstand? Und vergessen wir nicht: Einen Aufstieg der Religion gibt es nicht nur in der islamischen Welt, es gibt ihn überall in der Welt. Nehmen wir nur das politische Christentum in den USA.
Sie waren ein großer Star der 68er-Linken. Viele ihrer damaligen Freunde sind heute moderate Linksliberale, manche sogar Neokonservative. Warum haben die einen so anderen Weg genommen als Sie?
Wann immer sich eine große Welle des Radikalismus bricht und die Konterrevolution gewinnt, streichen viele Leute die Segel und wechseln die Seiten. Das war nach der französischen Revolution so, das war nach 1848 so – das ist überhaupt nichts Überraschendes. Wenn ich manche Banker, Broker, Minister, die ich von früher kenne, auf der Straße treffe, gucken die ganz peinlich berührt.
Aber haben diese Exgenossen von Ihnen wirklich ihre Ideen verraten? Sie setzen sich für Menschenrechte und gegen Genozide ein und sind dafür, dass demokratische Staaten mit militärischer Gewalt blutige Diktatoren stürzen. Was ist so blöd daran?
Ach, dieses Gerede! Seit der Okkupation wurden mehr Iraker getötet als von Saddams Diktatur ermordet wurden. Bravo, eine tolle Art, den Genozid zu stoppen! Diese Idee, dass der Westen das Gute in die Welt exportiert, ist nicht neu: für gewöhnlich nennt man sie Imperialismus.
INTERVIEW: ROBERT MISIK