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Archiv-Artikel

Der Ghetto-Ganove im Reihenhaus

Sie markieren den Gangsta, dabei träumen sie von einem ruhigen Leben am Stadtrand. Denn am liebsten wären die Jugendlichen aus dem Soldiner Kiez in Wedding ganz normal. Kiezforscher haben die „Problemkids“ erstmals selbst befragt

„Bei diesem Gangstakult geht es nicht um Rebellion, sondern um Konsum“

VON TINA VEIHELMANN

„Darf ich dir was erzählen?“, fragt ein Junge im Grundschulalter. „Du musst das Ghettolied hören, von Massiv. Der ist Gangstarapper, hier aus dem Kiez.“ Ali beginnt zu rappen: „Das ist das Ghettolied. Komm mit in den Wedding, und dann weißt du, wo das Ghetto liegt. Das ist kein Fluch, das ist Schicksal, wir Kanaken landen immer im Gerichtssaal. Ketten aus Gold, 1.200 Volt.“ Er hat die Stirn in Falten gelegt, das coole Spiel mit den Armen kann er schon ganz gut. Nur die Tonlage ist nicht ganz Gangsta, sondern eher zwölfjähriger Ali, der die Stimme verstellt, so wie Kinder es tun, um das gemeine Monster zu sprechen. Ist ein Foto erlaubt? Klar. Ali ist nett. Er verschränkt die Arme und guckt fies. Ali, Gangstarapper. Soldiner Straße an einem sonnigen Herbsttag.

Wenn der Soldiner Kiez im Wedding für irgendetwas bekannt ist, dann für seinen schlechten Ruf. Als „sozialer Brennpunkt“, wo die Kids auf der Straße rumhängen, als Stadtteil, der in jeder Hinsicht problematisch ist – vor allem die Jugend, deren Eltern aus Libanon, Gaza, Türkei oder Bosnien stammen. Und seit es einige junge Kreuzberger mit der Headline „gewalttätige Jugendliche verprügeln Polizei“ zum Medienbuster gebracht haben, ist der pauschale Verdacht gegen sie noch unverhohlener und feindlicher geworden. Redakteure planen Rundfunkfeatures und buchen schon mal den Sozialarbeiter für die Show in der kommenden Woche, um erneut die Frage zu stellen: Was ist los mit den Kids in den Migrantenbezirken? Wie schlimm ist es wirklich? Was haben wir zu befürchten?

Thomas Kilian, der mittendrin wohnt im Soldiner Kiez, ärgert sich über den Argwohn. Er selbst ist nicht jugendlich, feiert bald seinen vierzigsten Geburtstag, ist Soziologe, früh verrentet und könnte ebenso gut wie andere Schläfenergraute die young men in sportswear, die in seiner Straße an Ecke herumstehen, nervend und bedrohlich finden. Aber er sagt: „Diese Jugendlichen sind doch ein Reichtum. Weshalb dürfen sie erst mit Aufmerksamkeit rechnen, wenn sie es in die Charts der Polizeistatistik geschafft haben?“

Mit Frührentnern, ABMlern und Studenten aus dem Stadtteil hat er ein Projekt in Gang gebracht, das sich „AG Kiezforschung“ nennt, und sie haben die „Problemjugendlichen“ selbst befragt: was sie tun, wie sie leben, was sie sich wünschen. Die Kiezforscher haben ihre Kontakte im Stadtteil genutzt, die ein ortsfremder Soziologe nicht hätte, und schließlich erreicht, auch mit Murad* beim Kaffee zusammenzusitzen. Murad, der freimütig zugibt, selbst schon krumme Dinger gedreht zu haben – früher, versteht sich. Aber auch mit Arzu, die Schulsprecherin in einem Oberstufenzentrum ist, und mit Yasar, der eine Weiterbildung macht.

„Gangs“ gebe es nicht im Wedding, sagen die Kids. Aber Diebstahl, Hehlerei, Drogenkriminalität gibt es. Klar. Man sei in Cliquen von fünf, sechs Leuten unterwegs. Manche der Befragten waren selbst schon dabei – die Mehrheit war es nicht. Aber alle hatten schon mal irgendetwas mitbekommen, hatten eine Meinung dazu, erzählten davon. „Ein Unterschichtsbezirk ohne Kleinkriminelle ist ebenso undenkbar wie ein Villenviertel ohne Steuerhinterzieher“, scherzt Kilian. Das sei nicht alarmierend, sagt er – und hat sicherlich Recht damit. Ob man „Entwarnung“ geben könne, fragt man ihn. Er weiß es nicht, gibt er zu. Beunruhigend fand er nicht die Kleinkriminalität, verstörend fand er, welche Rolle sie spielt – in der Fantasie, im Denken der Kids, in ihren Geschichten. Dass ein „Gangstakult“ stilprägend ist, zeigte sich spätestens, als der Weddinger Gangstarapper Massiv – ein korpulenter, über und über tätowierter Junge aus Gaza – auf dem Leopoldplatz ein Video drehen wollte und von freiwilligen Statisten förmlich überrannt wurde. Und sein „Ghettolied“ von Dealerei und Selbstbehauptung in kürzester Zeit einen Smashhit als Handyklingelton landete.

„Bei diesem Gangstakult geht es nicht um Rebellion, wie ich als Vertreter der Achtziger-Jahre-Generation vielleicht erwartet hätte“, sagt Kilian, „es geht um die vorgelebte Teilnahme am Konsum.“ Denn wer nicht konsumiert, wird nicht geachtet. Und das merkt man bald, wenn man in einer Gegend lebt, in der sich die meisten keinen Restaurantbesuch leisten können. „Die mit den dicken Potten“, nennt Tarek die kleinen Kiezganoven, mit einer Mischung aus Schauer, Ekel und Bewunderung. Die mit den scharfen Wagen. Die Einzigen, die man kennt, die Kohle haben. Sie „laufen wie die Könige“, sagt Murad, der selbst verliebt ist und bald heiraten und eine Familie gründen möchte.

Sie sind keine Rebells. Nicht im Ansatz. In fast tragikomischem Widerspruch zu den Gangsta-Attituden stehen die Lebensträume der Jugendlichen. Hanadi war vor kurzem mit einer Freundin in Frohnau. Sie wünscht sich, später einmal selbst in einer „Kleine-Häuser-Gegend“ leben zu können. Murad träumt von Reinickendorf – weil es dort „ruhiger“ sei. „Ruhig“ ist das beliebteste Adjektiv, wenn es darum geht, den Sehnsuchtsort für ein späteres Leben zu beschreiben. Und „normal“, wenn es um den Lebensstil geht. Man will einen „normalen“ Mann, der fleißig ist und für die Familie sorgt. Der Edelstein unter allen Wünschen ist der Beruf. Murad will einen „normalen Beruf“, mit dem er 1.200 Euro verdient und sich also eine Menge zurücklegen kann. Yasar will reich sein und meint vielleicht etwas Ähnliches. „Ich würde gern Rechtsanwalt werden“, sagt Said, „weiß aber, dass ich nicht mal Koch werden darf.“ Also, fügt er drohend hinzu, werde ich wahrscheinlich Sehit (Märtyrer).

Das Eigenartige an diesen Jugendlichen ist, dass ihre Styles und Attituden, die sie im wirklichen Leben pflegen, stark an eine Traumwelt erinnern. Wenn Massiv in seinem Video in einer Limousine durch den Wedding fährt, blickt er cool und stolz in die Menge, wie ein dicker, huldvoller König. Seine schweren Goldketten zeigt er wie Schätze. Die Jungs imitieren das Goldkettengehabe und die Gebärden, die Mädchen tragen rosa Schleier, als wollten sie die passenden Prinzessinnen sein. Fragt man diese Jugendlichen aber nach ihren Träumen, klingen diese so, wie sich bei einem Mittelstandskind die Beschreibung einer ziemlich tristen Realität anhören würde. Berufswünsche wie „Elektriker mit einer Festanstellung bei Siemens“ haben plötzlich einen Klang wie etwas Teures, das zugleich völlig unerreichbar ist.

Entwarnung wird nicht gegeben. Murad und Yasar und Said drehen nach ihren Schulabschlüssen endlose Runden in so genannten Maßnahmen, die vorgeben, auf den Beruf vorzubereiten. Eine ersehnte „Normalität“ ist in so weite Ferne gerückt, dass sie mit dem Jetzt und Heute nahezu in keinem Zusammenhang mehr steht. So kann es passieren, dass einer im Viertel den „Gangsta“ markiert, der eigentlich nur ein Klempner werden wollte.

* alle Namen der Jugendlichen von der Redaktion geändert