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Archiv-Artikel

„Die verschwiegene Gewalt“

Körperliche und psychische Brutalität, die ein Mensch erfahren hat, taucht überraschend oft in der übernächsten Generation wieder auf. Besonders dann, wenn in der Familie nicht darüber geredet wird. Ein Gespräch über die Hintergründe des Mordes von Potzlow

INTERVIEW STEFAN REINECKE

Am Abend des 12. Juli 2002 betrinken sich Marco Schönfeld, 22 Jahre, sein Bruder Marcel Schönfeld, 17 Jahre, und Sebastian Fink, 17, gemeinsam mit dem 16-jährigen Marinus Schöberl. Gegen Mitternacht beginnt Marco, Marinus zu schlagen und zu quälen. Die Täter prügeln auf Marinus ein, einer pinkelt auf sein Gesicht. Sie zwingen ihn, zu bekennen, dass er „Jude“ sei. Nach stundenlanger Tortur bringen sie das Opfer zu einem Schweinestall am Rand des Ortes. Dort springt Marcel, der jüngere Bruder, mit Springerstiefeln per „Bordsteinkick“ auf den Kopf des Opfers. Die Leiche entsorgen die Täter in einer Jauchegrube.

Die Tat wird erst Monate später entdeckt, obwohl Zeugen den Beginn der Folter mitbekommen hatten. Der Regisseur Andres Veiel hat sich in seinem Buch „Der Kick – Lehrstück der Gewalt“, das am 20. Februar erscheint, mit den Tätern und dem Ort des Geschehens, dem Dorf Potzlow hundert Kilometer nördlich von Berlin, beschäftigt.

taz.mag: Herr Veiel, der Mord an Marinus Schöberl war nicht geplant, er hat sich irgendwie ergeben. War dieser Mord Zufall?

Andres Veiel: Es gibt viele Zufälle, ohne die diese Tat nie geschehen wäre. Aber dass Marinus das Opfer wurde, war kein Zufall.

Warum?

Täter und Opfer sind sich in vielem ähnlich. Sie haben Sprachschwierigkeiten, sie mussten auf die Förderschule, sie sind alle Außenseiter. Die Tat erklärt sich gerade aus dieser Nähe.

Inwiefern?

Zum einen, weil es die Tat ohne die Spannung zwischen den Schönfeld-Brüdern nicht geben würde. Marco hatte bereits drei Jahre Gefängnis hinter sich. Marcel, sein jüngerer Bruder, war währenddessen Hiphopper geworden. Als Marco rauskommt, hat Marcel Angst vor ihm, dem Neonazi – deshalb hat er sich wieder eine Glatze rasieren lassen. Mit der Tat will Marcel seinem Bruder imponieren. Er will ihm beweisen, dass er loyal ist, dass er ein Rechter ist. Mit dem Mord an Marinus, dem Hiphopper, löscht Marcel symbolisch seine eigene Vergangenheit als Hiphopper, als Nicht-Nazi, aus. Die Nähe, diese Spiegelung zwischen Täter und Opfer ist ein wesentliches Motiv der Tat.

Marco Schönfeld ist ein Intensivtäter, auf dessen Konto Dutzende von schweren Körperverletzungen, Diebstähle, Nötigungen etc. gehen. Auch Marcel wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Beide sind sie aber auch Opfer von heftiger Gewalt und Demütigungen in Potzlow geworden. Mit der Tat erheben sie sich auch über ihre eigene Rolle als Gewaltopfer. Das ist eine Überblendung …

Man muss zwei Fragen unterscheiden: Warum fängt die Gewalt an? Marco ist kurz vor diesem Abend aus dem Knast rausgekommen. Er kommt nach Potzlow – und wird als Erstes beim Dorffest zusammengeschlagen. Diese Demütigung lässt er an Marinus aus, dem Schmächtigen, der sich nicht wehrt. Die zweite Frage lautet: Warum hören die Täter nicht auf? Warum machen sie weiter bis zum Mord? Da kommt der Machtrausch ins Spiel. Deshalb gibt es in dieser Nacht immer wieder Pausen bei der Folter. Es soll lange dauern, es soll nicht schnell aufhören … Mitleid wird von diesem Rausch ausgeschaltet.

Aber nach der Tat entsorgen sie die Leiche, gehen nach Hause, waschen das Blut ab. Für einen Rausch ein sehr zweckrationales Handeln.

Das zeigt, dass Machtrausch kein LSD-Trip ist. Es gibt eine doppelte Buchführung des Bewusstseins. Mit einer Hälfte wissen die Täter genau, was sie tun.

Marcel hat später mit dem Mord geprahlt und gesagt, es sei „einfach geil“ gewesen, jemanden umzubringen. Das zeigt keine Nähe, sondern kalte Neugier.

Stimmt, es gibt beides, die Beziehung zum Opfer und die völlige Verselbstständigung der Gewalt – den Moment, in dem es nur noch darum geht, irgendjemanden umzubringen.

Die Täter zwingen Marinus, sich selbst „Jude“ zu nennen. Warum?

„Jude“ ist für die Täter erst mal eine beliebige Entwertungsvokabel, ein Schimpfwort. Aber wenn man genau hinschaut, schimmert doch etwas vom Nazi-Antisemitismus durch. Sebastian Fink pinkelt auf das Opfer und soll gesagt haben: „Euch Juden schmeckt Pisse doch.“ Darin liegt die Assoziation, dass Schweine sich in ihren eigenen Exkrementen suhlen, dass Juden wie Tiere behandelt werden dürfen. Der Jude ist kein Mensch, den darf man töten, dieser SS-Unterstrom ist spürbar.

Marinus hat nichts Jüdisches an sich. Warum ist es für die Täter trotzdem plausibel, ihn so zu nennen?

Weil „Jude“ im Dorf noch eine andere Bedeutung hat. Es heißt: anders sein und sozial unten zu sein. Genau das waren die Schöberls in der Sicht mancher Dorfbewohner. Marinus klaut. Die Familie hat sieben Kinder, auf ihrem Grundstück ist es unordentlich. Und, vor allem: Sie kommen aus Sachsen nach Potzlow. Wenn Marinus aus einer normalen Potzlower Familie gekommen wäre, hätten die Täter ihn nicht Jude genannt – und auch nicht getötet.

Die Tat hat also etwas mit der sozialen Hierarchie des Dorfes zu tun …

Man muss mit solchen Spekulationen vorsichtig sein, weil man schnell das Dorf als Ganzes stigmatisiert. Eine Kollektivschuld gibt es nicht. Auf einer mythologischen Ebene kann man sagen: Der Sündenbock wird ausgegrenzt und bestraft, damit der Körper des Kollektivs rein bleibt. Da schimmert die archaische Bedeutung des Opferbegriffs durch. Das Kollektiv opfert stellvertretend einen Einzelnen, den Sündenbock. Durch dessen Vernichtung stärkt und rettet sich die Gruppe. Diese Deutung hilft zu verstehen, warum die Zeugen der Misshandlung von Marinus nicht eingegriffen haben. Die Gewalt der Täter hätte auch sie treffen können.

Mit dem Bordsteinkick exekutiert Marcel eine Szene aus dem Spielfilm „American History X“, in der Edward Norton als Neonazi einen Farbigen mit diesem Stiefeltritt tötet. Gewaltvideos oder Ego-Shooter-Spiele werden ja oft fälschlicherweise für Auslöser von Jugendgewalt gehalten. Welche Rolle spielt der Film für die Tat?

Marcel kennt den Film – Marco nicht. Marcel hat also einen Wissensvorsprung. Er kennt die Bilder, den Ablauf, das Niederknien des Opfers, wie es aussieht, in die Kante zu beißen, wie man springen muss. Damit ist er endlich seinem Bruder ebenbürtig. Der Film ist also wie eine Chiffre, die Marcel ausfüllt. Er kennt das „Drehbuch“. Interessant ist, dass er mit dieser Tat symbolisch zu seinem Bruder wird. „American History X“ erzählt ja fast die gleiche Geschichte wie die von Marco und Marcel . Es geht um einen Neonazi, der aus dem Knast kommt, und um seine Beziehung zu dem jüngeren Bruder, der ihn bewundert. Kurzum: eine ähnliche Beziehung wie zwischen Marco und Marcel. Indem Marcel nun die Tat des älteren Bruders aus „American History X“ begeht, wird er quasi zu Marco. Diese Dynamik ist ein Motor der Eskalation.

Neben diesem Rollenspiel zwischen den Brüdern treibt auch eine Überbietungslogik die Tat voran, die man auch aus Gruppen wie der RAF kennt. Jeder will der Härteste, der Unnachgiebigste sein. Wer Mitleid zeigt, ist schwach …

Solche Männlichkeits- und Tapferkeitsbilder findet man bei der RAF, etwa bei Wolfgang Grams, der gesagt hat: Ich muss die Leute so sehr hassen, dass ich sie mit meinen eigenen Händen töten kann. Das gilt dann als der ultimative Beweis, zu der Gruppe zu gehören. Ähnliches gibt es in der preußischen Tradition. Das Soldatische – Tapferkeit, Disziplin und Entsagung – war lange die einzige Möglichkeit, sozial aufzusteigen. Man kann durchaus vermuten, dass diese mentale Unterströmung in dem Moment wieder zum Vorschein kommt, in dem die soziale Ordnung aus den Fugen gerät – nämlich nach der Wende. Die Eltern sind Verlierer, sie haben keine Autorität mehr. In diesem Vakuum werden in der Jugendszene Unempfindlichkeit und Härte zu Werten. Marco wollte sich zu Beginn der Misshandlungen vor Sebastian mit seiner Brutalität profilieren.

Die Eltern von Marco und Marcel sind in den 90ern aber keineswegs typische Wendeverlierer. Die Täter kommen eher aus einem bürgerlichen Elternhaus, es gibt keine soziale Verwahrlosung. Hat die Gewalt, die in dem Mord an Marinus gipfelt, also nichts mit der Familie zu tun?

Doch. Ich glaube, ein Schlüssel für die Tat liegt in der Familiengeschichte. Der Großvater war Zeuge, wie seine Eltern 1945 von russischen Soldaten stranguliert wurden. Das hat er dem Vater von Marcel und Marco erst auf dem Sterbebett erzählt. Die Großmutter wurde vergewaltigt, hat das Kind bekommen und ausgesetzt, es starb. Es gibt viel verschwiegene Gewalt in der Familie.

Aber diese verschwiegene Gewalt explodiert nicht in der zweiten Generation, sondern in der dritten?

Das ist ein schwieriges, spekulatives Feld. Aber den Befund, dass Gewaltsymptome eine Generation überspringen, gibt es oft in der Forschung über die Tradierung von Traumata. Die Schlüssel dafür sind Scham und Entwertung. Die Scham, etwa über die Vergewaltigung und das Aussetzen des Babys, führt zu einer Entwertung der eigenen Person, die oft an Kinder weitergegeben wird. Die latente Anhäufung von Entwertung gibt es besonders dann, wenn nie darüber geredet wird. Ein Indiz dafür ist, dass auch der Vater von Marcel und Marco eine Sprachstörung hat. Und diese Entwertungserfahrungen spiegeln sich in diesem Fall auch in einer Unsicherheit über Werte.

Zum Beispiel?

Es gibt, bei den Eltern und auch in der Schule, eine auffällige Unfähigkeit, Grenzen zu setzen. Marco ist als 12-Jähriger mit Glatze und Springerstiefeln aufgetreten. Aber keiner, nicht der Vater, nicht der Lehrer, sagt: Schluss, diese Symbole von Unmenschlichkeit lassen wir nicht zu. Da ist eine Indifferenz, die zeigt, dass, gerade in der Postwendezeit, eine fundamentale Unsicherheit über Werte existiert. Außerdem herrscht in dieser Jugendszene das Bewusstsein, dass man das Recht selbst in die Hand nimmt. Wer ein Moped klaut, wie Marco, wird furchtbar zusammengeschlagen. Zur Polizei geht niemand. Die staatlichen Autoritäten sind kaum präsent. Und es gibt auch keinen neutralen Dritten, der eingreift, keinen Pastor, keinen Lehrer, keine Institution. In dieser Leere entsteht dann die Alltagsgewalt der jugendlichen Subkultur.

Potzlow ist eher untypisch für die soziale Krise im Osten in den 90ern. Das Dorf leidet nicht unter Abwanderung, es wird 1995 sogar zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt. Es ist eher gutsituiert. Warum geschieht diese Tat ausgerechnet hier?

Ein einschneidendes Ereignis ist, dass in den 90er-Jahren ein westdeutscher Investor auftritt, der nahezu ganz Potzlow aufkauft. Seiner Familie gehörten bis 1918 dort Ländereien – und er spielt die Dorfbewohner nun geschickt gegeneinander aus. Er kauft die LPG auf, die frühere Nomenklatura kollaboriert mit ihm. Im Dorf machen böse Gerüchte die Runde, etwa dass er die LPG-Vorsitzenden bestochen hat, um die LPG billig zu bekommen. Sogar über den Pfarrer, der integrierend für das Dorf wirken könnte, heißt es, er hätte sich kaufen lassen. Ob das wirklich so war, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass in dem Dorf das Gefühl herrscht, dem Investor hilflos ausgeliefert zu sein. Damit zerbröselt der soziale Zusammenhang im Dorfkollektiv. Das Wir verschwindet.

Wenn wir diese Erzählung mit der Tat verbinden, bedeutet dies: Es gibt den anonymen Fremden, der über so viel Macht verfügt, dass er für die Dorfbewohner unangreifbar ist. Marinus gilt als Fremder, aber er markiert das unterere Ende der sozialen Skala. Die Aggression, die das Dorf nicht gegen den Investor richten kann, sucht sich also nun eine andere Bahn. Kann man das so pointiert ausdrücken?

Nicht im Sinne von direkter Schuld oder Tatbeteiligung. Aber es gibt Zusammenhänge. Der Investor tritt Mitte der 90er-Jahre auf. Er nimmt dem Dorf ganz handfest etwas weg. Zum Beispiel kauft er den See in Potzlow – und einen Angelschein bekommt nun nur, wer sich ihm gegenüber loyal zeigt. Das ist wie eine Art Wiederkehr ostelbischen Junkertums. Zur gleichen Zeit kommen die Schöberls nach Potzlow – und auch Marinus nimmt dem Dorf etwas weg: Er klaut ein Moped. Das Gleiche tut Marco Schönfeld. Auch er klaut ein Moped und wird dafür von Potzlower Jugendlichen schwer misshandelt. Und noch ein Indiz: Den LPG-Mitgliedern, die nicht an den Investor verkaufen wollten, wurde von Dorfbewohnern angedroht, ihr Stall würde abgefackelt. Das ist zwar nicht passiert, es haben ja auch alle verkauft – aber die Ohnmacht brauchte ein Ventil. Der Hass traf die Familien der Täter und des Opfers, die beide zu dieser Zeit ins Dorf kamen. Der Briefkasten der Schöberls wurde wirklich zerstört.

Symbolisch gesehen heißt das: Dem fremden „Kapitalisten“ ist man hilflos ausgeliefert, deshalb hält man sich an die anderen, Schwächeren.

Die Jugendlichen haben, als sie Marco wegen des Mopeddiebstahls übel misshandeln, vielleicht etwas ausagiert, was in der Mitte des Dorfkollektivs brodelte. Später, bei dem Mord, haben Marco und Marcel ihre am eigenen Leib erfahrene Entwertung auf Marinus übertragen. Dass sie ihn „Jude“ nannten, hatte noch eine Aufladung. Der Pfarrer sagte nach der Tat: „Die Schöberls waren die Juden im Ort.“ Die Täter haben mit dem Mord also unbewusst auch die Ausgrenzungsversuche mancher im Dorf gegenüber der Familie des Opfers ausagiert.

Wie hat das Dorf denn auf die Tat reagiert? Mit Selbstreflexion?

Viele haben mit Abwehr reagiert. Sie sagten: „Das hat nichts mit uns zu tun. Da haben Zugezogene was unter sich ausgemacht.“ Diese Abwehr hatte auch einen rationalen Kern. Denn in den Medien war nach der Tat von dem „Faschodorf“ die Rede. Außerdem hat ein TV-Team Jugendlichen 500 Euro geboten, damit sie noch mal in der Jauchegrube nach der Leiche buddeln. Darüber haben sich die Potzlower zu Recht empört – aber in dieser Empörung steckte auch das Leugnen, damit etwas zu tun zu haben. Diese Abwehr war vielleicht so massiv, weil man den unbewussten Anteil an der Tat nicht sehen wollte.

Taugt Potzlow denn als Metapher für manche Regionen im Osten? Oder ist dieser Fall so speziell, dass es falsch wäre, auf Allgemeines zu schließen?

In Potzlow ist etwas kulminiert, was auch anderswo existiert – nicht nur, aber vor allem im Osten. Die Rolle des Investors ist dort sehr prägend. Aber die Erfahrung, enteignet zu werden, und das Bewusstsein, dass auf den Staat kein Verlass ist, sind häufig in der Ex-DDR.

Vor allem Marco hatte vor dem Mord ja schon eine beachtliche kriminelle Karriere hinter sich. War die Justiz zu nachgiebig, zu lasch?

Es gab in der Justiz in Brandenburg in den 90ern ein strukturelles Problem. Viele Richter und Staatsanwälte aus DDR-Zeiten wurden ausgemustert, neue waren noch nicht da. Deshalb blieben viele Fälle einfach monate- oder jahrelang liegen. Bei vielen Tätern kam das als die fatale Botschaft an: Ich kann in diesem Staat machen, was ich will.

Wäre der Mord nicht passiert, wenn der Staat klarere Grenzen gezogen hätte?

Vielleicht. Wegsperren allein bringt natürlich gar nichts. Aber wenn es ernsthafte Versuche gibt, im Knast ein lehrvorbereitendes Jahr zu absolvieren oder eine Alkoholentziehungskur zu machen – dann ist der Knast manchmal die einzige Chance für Leute wie Marco und Marcel. Denn nur so können sie positive Erfahrungen machen, die nichts mit Gewalt zu tun haben. In der Schule haben sie nur gelernt, dass sie nichts wert sind. Und Gewalt war der einzige Weg, über den sie sich Anerkennung verschafft haben.

Welche Zukunft haben die Täter?

Sebastian Fink ist zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und inzwischen vorzeitig entlassen worden. Marco Schönfeld ist zu fünfzehn Jahren verurteilt und wird frühestens 2012 entlassen. Marcel wurde nach dem Jugendstrafrecht zu acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er kommt wahrscheinlich nächstes Jahr raus.

Wie sieht er die Tat heute?

Zuerst hat er sich für die Tat feiern lassen. Er war stolz darauf. Das ist vorbei. In der Haft hat er sich mit der Tat beschäftigt. Er hat Lähmungserscheinungen an den Beinen bekommen, die keine organische Ursache haben.

Und was wird geschehen, wenn er wieder frei ist?

Das ist ungewiss. Seine Eltern klammern sich an die Idee, dass die Söhne wieder bei ihnen in Potzlow wohnen. Sie träumen davon, mit ihnen das Dachgeschoss ihres Hauses auszubauen. Das ist die Illusion, dass die intakte bürgerliche Familie, die sie doch mal waren, wiederhergestellt werden kann. So als wäre nichts gewesen. Aus dem Fenster des Dachgeschosses wird Marcel direkt auf den Schweinestall schauen, in dem er Marinus getötet hat.

STEFAN REINECKE, Jahrgang 1959, ist Autor der taz und lebt in Berlin