Lesestoff nach Nachfrage

BÜCHEREI An der Zentral- und Landesbibliothek hat man Angst, dass das Haus zur Schmalspurbücherei umstrukturiert werden könnte. Mitarbeiter schlagen bei einer Personalversammlung am Mittwoch Alarm. Auf Leitungsebene sieht man dagegen Gerüchte im Umlauf

„Es geht uns nicht darum, den Eichendorff rauszuschmeißen“

ANNA JACOBI, ZLB-SPRECHERIN

VON NINA APIN

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in die Bibliothek, weil Sie kürzlich im Fernsehen eine Verfilmung von Eduard von Keyserlings Ostseedrama „Wellen“ gesehen haben. Jetzt wollen Sie mehr von dem Mann lesen, etwa seine Novelle „Schwüle Tage“. Für Ihren Neffen wollen Sie bei der Gelegenheit ein Buch über Flugzeugmodellbau ausleihen.

In der Bibliothek gibt es allerdings nichts über Flugzeugmodelle und keinen Keyserling. Dafür von Fallada den Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Der sei gerade Schullektüre und deshalb vorrätig, sagt man Ihnen am Bibliotheksschalter. Das von Ihnen Gewünschte wurde leider aussortiert – zu unpopulär. Bei so wenig Nachfrage lohne es sich nicht, die Titel auf Lager zu halten. Auch für Flugzeugmodelle habe sich in den letzten zwei Jahren keiner interessiert. Darf es vielleicht statt dessen Origami sein?

Eine Bibliothek, die aus Platz- und Personalmangel nur noch das Meistnachgefragte anbietet – in vielen Städten ist das bereits Wirklichkeit. In Berlin bislang noch nicht: Die Berliner Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) ist mit 3,4 Millionen ausleihbaren Medien die größte öffentliche Bibliothek des Landes mit einmalig vielfältigem Angebot. Doch ZLB-Mitarbeiter schlagen jetzt Alarm. Sie fürchten, dass Bibliotheksdirektor Volker Heller einen Großteil der alten Bestände aussortieren will. Das nämlich empfahl 2010 das Gutachten einer im Auftrag des Kultursenats eingesetzten Strukturkommission. Umgesetzt wurden diese Ideen bislang nicht. Aber ZLB-Mitarbeiter fürchten, dass das Scheitern des Bibliotheksneubau am Tempelhofer Feld zum Anlass wird, die Umstrukturierungen nun durchzusetzen.

Kritische Einwände

Peter Delin und Ursula Müller-Schüssler waren lange Zeit Bibliothekare in der ZLB und haben dort bis Januar 2014 die Filmsammlung aufgebaut. Jetzt könnten sie eigentlich ihre Rente genießen – doch die beiden fürchten, dass es mit „ihrer“ ZLB bald bergabgeht. Deshalb traten sie am Mittwoch bei einer Personalversammlung als Redner auf: „Wir wollen Hellers Pläne kritisch würdigen – und bekannt machen, was sie für die Bibliothek bedeuten.“

Delin und Müller-Schüssler sagen, sie hätten Beweise dafür, dass der 2012 vom damaligen Kulturstaatssekretär Schmitz zum Direktor bestellte Verwaltungsfachmann Heller die ZLB nicht nur ausbluten lassen, sondern auch aufteilen will: in eine Publikumsbibliothek mit Schmalspurangebot und eine wissenschaftliche Landesbibliothek, deren Bestand fast nur im Lesesaal benutzt werden kann.

„Heller hat vor, das Bibliothekskonzept seiner Vorgängerin Claudia Lux abzuwickeln“, warnt Delin. Dabei habe genau dieses Konzept der ZLB zu ihrer Erfolgsgeschichte verholfen, mit 2,4 Millionen Ausleihen pro Jahr. Als Lux 1995 ihr Amt antrat, fügte sie die Ost- und Westsammlungen zusammen. Seitdem steht dem Berliner Publikum eine reichhaltige Auswahl an Medien in der Amerika Gedenkbibliothek und in der Stadtbibliothek in der Breiten Straße zur Verfügung. Alte Bestände und neue, Populäres und Abseitiges, nahezu alles ist vorrätig und zur Ausleihe verfügbar. Eine echte Volksbibliothek. Welche Bücher und Filme neu angeschafft werden – rund 70.000 pro Jahr –, bestimmen weitgehend die Lektoren.

Delin und Müller-Schüssler unterstellen ihrem ehemaligen Chef, den sie nur den „Managementdirektor“ nennen, Berlins Angebot an das von Städten wie Dresden, Hamburg oder Bremen angleichen zu wollen. Dort gibt es sogenannte Verbrauchsbibliotheken. Die haben ausschließlich aktuelle populäre Titel im Sortiment. Alles, was länger als zwei Jahre nicht ausgeliehen wird, fliegt raus. Und zwar nicht ins Magazin, sondern in den Schredder. Eine Bibliothek mit leichtem Gepäck, die nicht auf Vollständigkeit setzt, sondern einzig dem Prinzip der Nachfrage folgt. Fast wie bei Amazon.

Dieses Geschäftsmodell spart nicht nur Lagerplatz, sondern auch Personal: Die Bestellung von Neuerscheinungen übernimmt eine Einkaufszentrale für Öffentliche Bibliotheken aus Reutlingen. „Die Titelauswahl ist allerdings viel zu klein“, sagt Delin. „Für die ZLB mit ihrem Schwerpunkt auf Aus- und Weiterbildung ist das bei Weitem nicht ausreichend.“

Delin sagt, seine Rede vor der Belegschaft habe „eingeschlagen wie eine Bombe“. Auch wenn die Leitung versucht habe, alles abzustreiten, seien die Mitarbeiter empört gewesen. Die Belegschaft der ZLB will nun eine öffentliche Diskussion über das Betriebskonzept ihres Hauses anzetteln.

Bei der ZLB-Leitung reagiert man auch auf taz-Nachfrage erstaunt: „Eine Zweiteilung des Hauses ist keineswegs geplant, im Gegenteil: Wir wollen endlich unsere Bibliotheksbestände an einem Ort haben“, sagt Hellers Sprecherin Anna Jacobi. Man befinde sich derzeit in einer Umbruchsituation. Die mehr als 300 Mitarbeiter der ZLB seien ob der ungeklärten Standortsituation eben etwas beunruhigt. Da verselbstständigten sich schon mal Gerüchte.

„Es geht uns nicht darum, den Eichendorff rauszuschmeißen“, betont Jacobi. Eine Modernisierung von Abläufen im Haus plane man aber schon. Auch eine „Veränderung der Erwerbspolitik“. Also will man doch die Dienste der schwäbischen Agentur in Anspruch nehmen? „Wir beziehen bereits 5 Prozent unserer Medien aus Reutlingen“, sagt Jacobi. Wenn man künftig noch etwas mehr Standardware extern beziehe, könnten sich die eigenen Fachkräfte künftig mehr auf themenbezogene Lektoratsarbeit konzentrieren. Zum Beispiel den „Themenraum Erster Weltkrieg“, gerade aktuell abrufbar auf der ZLB-Website. Solch anlassbezogener Service werde von den Nutzern geschätzt. „Modernisierung muss nicht Verflachung bedeuten“, sagt Jacobi.

Auch bei der Senatskulturverwaltung stellt man die Ängste der ZLB-Belegschaft als unbegründet dar. „Es gibt keinen neuen Stand, weder was den Standort noch was das Bedarfskonzept der Bibliothek angeht“, sagt Günter Kolodciej, Sprecher des urlaubenden Kulturstaatssekretärs Tim Renner. „Bislang ist noch keine Entscheidung getroffen.“