: Die Liebe zum Tod an einem Sonntag
SELBSTMORD Die Leichen der Seine erstehen auf. Der Ausnahmehistoriker Richard Cobb gibt ihnen Hilfestellung
VON TANIA MARTINI
Sie war „Die Unbekannte aus der Seine“. Ihrem Grinsen waren die Bohemiens des 19. Jahrhunderts verfallen, und ob ihrer Schönheit inspirierte sie Kunst und Literatur. Eine Selbstmörderin, wie es sie zu Tausenden gab, aber keine so schön wie sie. Einen Mitarbeiter der Leichenschauhalle hinter Notre-Dame hatte sie so begeistert, dass er eine Totenmaske von ihr anfertigte. Vladimir Nabokov, Louis Aragon, Man Ray, um nur einige zu nennen, verschafften ihr weitere letzte Auftritte, ihrem Lächeln, das von solcher Zartheit war, dass „man hätte glauben können“, wie Maurice Blanchot schrieb, „sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“ Ein Mythos.
Die anderen Leichen der Seine, die tausenden, sie waren nicht berühmt, weder zu Lebzeiten noch postum. Aufgedunsen, unansehnlich, gezeichnet von allerlei Treibspuren und Verwesung stellt man sie sich vor, und in der Regel gehörten sie zu den Ärmsten der Armen. Über solche, also gewöhnliche Wasserleichen und andere „nicht natürliche Todesfälle“ hat der britische Historiker Richard Cobb 1978 ein Buch verfasst, das nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist.
Cobb (1917–1996), unkonventionell, nicht karrieristisch, ein wenig schrullig vielleicht, dem Kommunismus zugetan, aber jede Zugehörigkeit im Schreiben vermeidend, ein Spezialist für die Zeit der Französische Revolution, brachte 15 Jahre in französischen Archiven zu, lebte von der Hand in den Mund und bekam schließlich wider Erwarten eine Professur an der University of Oxford. Sein Buch „Tod in Paris“ ist so etwas wie eine Sozialgeschichte des Selbstmords und ein Stück Alltagsgeschichte der Revolutionszeit.
Cobb nahm sich die Protokolle von 404 unnatürlichen Todesfällen aus den Jahren 1795 bis 1801 vor, allesamt angefertigt von den zuständigen Beamten des Leichenkellers der Basse-Geole am rechten Ufer der Seine, wo die Leichen hingebracht wurden.
Kurz, nüchtern, routiniert sind die Vermerke des Friedensrichters und seiner Assistenten Daude und Bouille über Kleidung, mitgeführte Dinge, Herkunft: „Pierre Davit, Pflasterer, geboren in Beauficel, 49 Jahre, wohnhaft in Paris, Rue Chartrière 4, vermisst im Grand Hospice de l’Humanité, wo er schon seit geraumer Zeit krank lag … ertrunken aufgefunden … am Quai de la Vallée, ein rostfarbenes Hemd, gekennzeichnet mit dem Buchstaben F aus dem Wäschebestand des Grand Hospice de l’Humanité … Leichnam identifiziert von Nicolas Turgis, Pflasterer …“
Der Tod in der Seine gehörte zum Pariser Alltag, dem Alltag der Armen, er war die einfachste, billigste und mit Abstand häufigste Form des Todes, weil man sich eine Pistole nicht leisten konnte und die beengten Lebens- und Wohnverhältnisse nicht den Raum für so etwas Intimes wie Selbstmord ließen. Und eine Selbstmörderbrücke hatte das Paris des 18. Jahrhunderts noch nicht, erst 100 Jahre später sollte der ein oder andere sie im neuen romantischen Parc des Buttes-Chaumont finden.
Doch was erzählen die Seine-Toten? Cobb erschließt eine ganze Alltagswelt aus den spärlichen Leichenkellernotizen, doch nicht ohne die heimliche Hilfe von Francisco de Goya, dem „scharfsichtigen und unvergleichlichen Chronist der Erscheinung und Haltung des Volkes“, von ihm lernt Cobb viel über die Harlekinfarben der Armen, die, „als wollten sie den Tod herausfordern … bunt wie ein Regenbogen einherschritten“ (Cobb). Aber wichtiger noch als Goya war ihm Réstif de la Bretonne, der Chronist und Pornograf der Revolutionsjahre, der allein 42 Bände über die „Abenteuer der schönsten Frauen“ verfasst hatte. Réstif, der sich in der Unterwelt herumtrieb und über den Foucault, der wie Cobb eine Affinität zu solch exzentrischer Alltagsgeschichte hatte, in einem Aufsatz in Le Monde schrieb, auf Restif gehe eine ganze Tradition der Libertinage zurück, die ihre Effekte nicht mehr nur in der Ausgefallenheit der Szenen, „sondern in der leidenschaftlichen Erforschung einer bestimmten Wahrheit der Lust“ suche.
Restifs Schilderungen kehren in Cobbs Fußnoten wieder, aus ihnen nimmt er die Informationen, um das Pariser Leben zu einem Bild zusammenzustellen. Die heruntergekommenen, beengten Wohnverhältnisse in den Logierhäusern, den „garnis“, entlang der Seine, die nur wenige Schritte vom Sprung in den Tod entfernt lagen, der Tratsch, was Scham und was Stolz war oder wie letztlich unberührt der Alltag der Armen von der großen Revolution blieb, davon hatte Cobb Eindrückliches bei Restif gelesen. Eine starre Gesellschaft, in der Beruf, Wohnort und Kleidung über Generationen vererbt wurden. Cobbs Indizien sind vielfältig: Das Material der Knöpfe an den Lumpen, es lässt ab einem bestimmten Punkt Rückschlüsse auf die Militarisierung zu, die immer fremden Initialen an den Hemden der Seine-Toten aus den schrecklichen republikanischen (Irren-)Anstalten, aus dem Hotel des Invalides oder aus Bicêtre, sie werden unter Cobbs Blick nach und nach zur „verblichenen Uniform eines kümmerlichen Wohltätigkeitssystems“.
Der Anstieg der Selbstmordrate, vor allem unter den Männern, bei beachtlich niedriger Mordrate, die Vorliebe der Frauen für den Selbstmord am Sonntag, aus alldem zieht Cobb Rückschlüsse über das Leben zur Zeit des Direktoriums und des Aufstiegs Napoleons, ohne überzuinterpretieren. Cobb hat ein ganz wunderbares Buch hinterlassen, und man wünscht sich, dass es in der Geschichtswissenschaft mehr solcher Exzentriker gäbe.
■ Richard Cobb: „Tod in Paris. Die Leichen der Seine 1795–1801“. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann. Vorwort von Patrick Bahners. Klett- Cotta, Stuttgart 2011, 201 Seiten, 19,95 Euro
Das Buch erscheint am 24. März 2011