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Archiv-Artikel

Kusch, liebes Leben, kusch

Diese ewig unfertigen Erwachsenen: Der Regisseur Sebastian Nübling spürt in Ibsens „Gespenstern“ vertraute Figuren der Gegenwart auf. Nur die Logik der Geschichte leidet an der Schaubühne

VON ESTHER SLEVOGT

Ein enormer, runder Konferenztisch dominiert die Bühne auf einem dicken blauen Plüschteppich – geeignet, jedes Geräusch zu verschlucken. Der Teppich bedeckt nicht nur den Boden, sondern kriecht an der hinteren Bühnenwand meterhoch hinauf. Trotzdem dringen immer wieder Geräusche in die pompöse Kälte dieses Orts: Gekicher, Geflüster, Musik und später das knisternde Flackern des brennenden Kinderheims, dessen Eröffnungsfeierlichkeiten hier eben noch verhandelt wurden. Einmal windet sich sogar ein schlanker Frauenkörper im langen grünen Gewand durch die Teppichwand und landet wie eine fußlose Nixe auf dem Boden: Helene Alving (Bibiana Beglau), Konzernchefin, ewig jugendliche Mutter und kaltes Machtzentrum in Sebastian Nüblings Inszenierung von Henrik Ibsens Familienschauerdrama „Gespenster“ von 1881. Die norwegischen Zeitgenossen waren davon so geschockt, dass es in fernen Chicago uraufgeführt werden musste.

Zielte Ibsen mit seinem Stücktitel deutlich auf die Patriarchen, deren erstickende Macht sogar noch über ihren Tod hinaus fatale Folgen auf die Nachgeborenen hat, sind es bei Nübling nun die Kinder, die zu den Gespenstern der Gegenwart geworden sind. Am Ende geistern sie noch einmal heimatlos über die Bühne: das Kinderheim, das ihnen zugedacht war, ist abgebrannt, und einen anderen Ort scheint diese Welt für sie nicht vorzusehen.

Ein dickes Kind, Helene Alvings Sohn Osvald (Bruno Cathomas), ist kurz zuvor am Mehltau erstickt, den die Generation seiner Eltern flächendeckend über alle möglichen Lebensentwürfe gelegt hat. Sebastian Nübling lässt ihn buchstäblich minutenlang Mehl aushusten und kotzen und damit am Ende nicht nur Frisur und Outfit seiner Mutter, sondern den ganzen Designerchic der Bühne ruinieren.

In den knapp zwei Stunden zuvor ist man einigen dieser ewig unfertigen Erwachsenen begegnet, und zwar als sehr überzeugenden Updates von Ibsens Originalfiguren. Der arme Tischler Engstrand ist zum erfolglosen Architekten geworden, den Jörg Hartmann mit reichlich infantilen Marotten ausstattet. Aus dem bigotten Pfarrer Manders ist in der Schaubühne ein karrieregeiler und opportunistischer Familienanwalt geworden: ein alt gewordenes Kind im teuren Anzug, den Robert Beyer sehr überzeugend emotional auf dem Niveau eines Teenagers spielt. Und schließlich Frau Alving selbst, die jünger aussieht als ihr Sohn, den sie nicht erwachsen werden lassen will.

Und schließlich ihre Pflegetochter Regine, eine in ihrem Kinderkörper gefangene junge Frau und mörderisches Nympchen (beeindruckend: Lea Draeger), das sich mit wehendem Haar und aggressiver Lust an jeden Mann klammert und sich buchstäblich festbeißt. Jeder ihrer Blicke schreit „Hab mich lieb!“ Aber meist erntet sie von der Pflegemutter Alving nur ein scharfes „Kusch!“. Denn wenn die Erwachsenen in Nüblings Inszenierung eines nicht können, dann ist es zu lieben. Dazu sind sie viel zu sehr mit ihren eigenen mickrigen Lebensversuchen beschäftigt.

Sebastian Nübling ist der einzige Regisseur der Oberliga (der gerade mal wieder mit einem Stück zum Theatertreffen eingeladen wurde), der immer wieder auch Jugendtheater gemacht hat, und zwar eins, das sich jenseits aller pädagogischen Herablassung bewegt; das aus Jugendlichen keine besseren Erwachsenen machen will, sondern deren Ängste, Sehnsüchte und gelegentlich destruktiven Kräfte mit irritierender Intensität (und manchmal MTV-kompatiblen Ästhetiken) auf der Bühne fast physisch erlebbar macht. Insofern war es eigentlich logisch, dass Nübling eines Tages in der Schaubühne inszenieren würde, die ja auf ihre Art auch ein sehr hochkarätiges Jugendtheater ist. Eins, dessen Kombattanden allerdings ungern das eigene Älterwerden thematisieren. Die Probleme, die in diesem Haus verhandelt werden, sind immer die Probleme der anderen: der sozial Schwachen, der Lebensunfähigen, der karrieregeilen Mitte-Berliner oder des Bürger an sich. Und vielleicht ist es gerade dieses Schaubühnengespenst, das sich kontraproduktiv auf Nüblings Sicht auf Ibsens Stück auswirkt und sich wie Mehltau über den Abend legt: dass auch hier die Kinder plötzlich die anderen sind.

Jedenfalls bleibt vieles an Nüblings Neudeutung des Stücks pure Behauptung. Der Abend wird letztlich auch das Gespenst Ibsen nicht los, das von den Verheerungen vererbter Geschlechtskrankheiten und überkommener Gesellschaftskonzepte auf die Nachwelt und nicht von der Abschaffung der Kindheit durch ewig junge Erwachsene erzählt. So hinterlässt manche Ungereimtheit Sand im Getriebe eines nicht unspannenden Abends.

Schaubühne am Lehniner Platz, wieder vom 23. bis 25. Februar und vom 23. bis 25. März