: Nur die Mittelschicht schafft Jobs
Wer die Globalisierung meistern will, muss heute die Erwerbshaushalte stärken. Diese heizen mit ihrer Nachfrage nach Dienstleistungen den Aufschwung erst an
„Auf lange Sicht sind wir alle tot“ – dieses Bonmot des Ökonomen John Maynard Keynes konzentriert in dankenswerter Klarheit all das, was heute in einer bedrohlichen Staatsverschuldung kulminiert. Der Gedanke, den kurzfristigen Aufschwung durch Kredite und damit auf Kosten der Zukunft zu finanzieren, war der Startschuss für die defizitäre Haushaltspolitik, die bis heute anhält. Zu Recht ist zumindest die praktische Umsetzung des antizyklischen deficit spending in Misskredit geraten.
Das Problem der Verschuldung und die steigenden Arbeitskosten ließen das Pendel zugunsten der Angebotspolitik zurückschlagen. Besonders angesichts der Abhängigkeit der Exportnation Deutschland vom globalisierten Markt gilt heute die Angebotspolitik als wachstumsfreundlicher: Ein liberaler Arbeitsmarkt und eine Sozialpolitik, die statt prekäre Lebenslagen abzusichern nur noch in akuten Notfällen hilft, sind verbreitete angebotspolitische Forderungen.
Dieser Trend verstellt aber gerade in Deutschland den Blick dafür, dass es nicht allein Angebotspolitik ist, welche die derzeit erfolgreichen Volkswirtschaften auf Wachstumskurs gebracht hat. Nachfragepolitik, also die Stärkung der Kaufkraft in der Hand von Konsumenten, bleibt ein Wachstumsfaktor. Aber: Es kommt darauf an, welche Einkommen gestärkt werden. Dieser Aspekt wird in Deutschland völlig vernachlässigt.
Hierzulande gehen nachfragepolitische Argumente meist einher mit der Forderung nach hohen Transferleistungen. Hintergrund ist der zunächst verständliche Gedanke, dass die Politik, wenn sie als stimulierender Faktor auftritt, dies im Sinne des sozialen Ausgleichs tun sollte: Stärkt der Staat die Nachfrage, dann bitte die der sozial Schwachen. Für den Beschäftigungseffekt ist es aber nicht unerheblich, ob Erwerbseinkommen oder Transfereinkommen von Kaufkraftzuwächsen profitieren.
In Deutschland steigen seit Jahren die Sozialausgaben, während die Erwerbstätigkeit als Einkommensquelle stagniert oder rückläufig ist. In weiten Teilen Ostdeutschlands ist die Seite der Empfänger bereits in der Überzahl. Auch bei der Höhe der Einkommen hat sich das Gewicht lange zu Ungunsten der Einkommen durch Arbeit entwickelt. Die soziale Absicherung in Deutschland liegt im weltweiten Vergleich weiterhin an der Spitze, während die Nettolöhne zurückgefallen sind.
Durch die Schieflage entsteht eine Nachhaltigkeitslücke, die sich in dramatischen Defiziten der öffentlichen Haushalte niederschlägt. Die Staatsausgaben sind zunehmend konsumtiv ausgerichtet. In der jüngsten Zeit kommen sozialpsychologische Aspekte in die Debatte hinein: Die hohen Transferleistungen können Resignation und den Verlust an lebenspraktischer und kultureller Kompetenz in der Arbeitslosigkeit nicht verhindern.
Diese Erfahrungen haben bereits ein Umdenken in Gang gesetzt. Die SPD will die Sozialpolitik stärker vorsorgend ausrichten: Sie plädiert für einen „aktivierenden“ Sozialstaat. Wenn der Parteivorsitzende Kurt Beck die Partei dazu auffordert, sich wieder stärker den Bürgerinnen und Bürgern zuzuwenden, die „Werte schaffen“, jenen 40 bis 50 Prozent in der Mitte der Gesellschaft, dann meint er genau jene tragenden und zahlenden Mitglieder des Sozialsystems.
Diesen wichtigen sozial- und haushaltspolitischen Argumenten ist ein wirtschaftspolitischer Aspekt hinzuzufügen, der den Zusammenhang zwischen der skizzierten Entwicklung und den Beschäftigungschancen der Dienstleistungsgesellschaft betrifft. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien stützt sich der Aufschwung der vergangenen fünfzehn Jahre auf eine Nachfragepolitik, die gezielt die wirtschaftlich aktiven Mitglieder der Gesellschaft gestärkt hat. Die Politik des billigen Geldes, erhebliche Steuererleichterungen zum Beispiel bei der Immobilienfinanzierung, und eine Gesetzgebung, die eine äußerst freizügige private Kreditvergabe ermöglicht, haben die Kaufkraft der Haushalte immens gestärkt.
Es sind dadurch in diesen Ländern vor allem die Haushalte der Mittelschichten, die über steigende finanzielle Spielräume verfügen. Diese Einkommen aber – und das ist der entscheidende Unterschied – sind dienstleistungsfreundlicher als Transfereinkommen. Denn das Einkommen aus Erwerbstätigkeit geht mit erheblich größerer Zeitknappheit einher, als das bei Rentnerhaushalten und Arbeitslosen der Fall wäre.
Nun kann man einwenden, dass Haushalte mit großen zeitlichen Ressourcen zwar weniger Dienstleistungen in Anspruch nehmen, dafür aber mehr Industrieprodukte konsumieren. Die Nachfrage nach Industrieprodukten hat aber einen weit geringeren Beschäftigungseffekt als die Nachfrage nach Dienstleistungen. Beschäftigungszuwächse sind trotz der großen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in diesem Sektor kaum zu erwarten.
Es ist bezeichnend, dass die jüngsten Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit vor allem einem Beschäftigungsaufbau bei den unternehmensnahen Dienstleistungen zu verdanken sind: Die gute Auftrags- und Ertragslage der Unternehmen generiert kaum zusätzliche Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Fertigung, durchaus aber im Dienstleistungssektor. Die privaten Haushalte dagegen profitieren bislang kaum vom Aufschwung und können diese Entwicklung nicht stützen. Hinzu kommt, dass das produzierende Gewerbe viel anfälliger ist für den Kostendruck durch billige Löhne im Ausland. Industrieprodukte sind der Konkurrenz des globalisierten Marktes voll ausgesetzt. Dienstleistungen dagegen sind nur begrenzt aus Billiglohnländern importierbar. Die Stärkung der Dienstleistungsgesellschaft kann mithin auch als Antwort auf die Globalisierung betrachtet werden.
Das wirtschaftspolitische Denken ist in Deutschland nach wie vor zu sehr an der industriellen Produktion orientiert. Der Erhalt industrieller Arbeitsplätze bleibt wichtig, darf aber angesichts der geringen Beschäftigungseffekte den Blick auf die Dienstleistungsbranchen nicht verstellen. In Deutschland beginnt man zu begreifen, dass ein Wirtschaftsaufschwung ohne die Stärkung der Erwerbshaushalte nicht zu erreichen ist. Die Debatte um den Investivlohn geht dabei in die richtige Richtung. Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung spielt dagegen keine nennenswerte Rolle mehr. Man will weg von der Frühverrentung und setzt stattdessen auf eine Steigerung der Erwerbsquote bei Älteren. Haushaltsnahe Dienstleistungen werden steuerlich begünstigt.
Es geht nicht zuletzt darum, Aktivität zu stärken statt Passivität zu subventionieren. Zu lange haben wir in Deutschland versucht, mit teuren Frühverrentungsprogrammen und der Subventionierung der Hausfrauenehe das Angebot an Arbeitskräften am Markt zu reduzieren. Genau umgekehrt funktioniert es: Die Nachfrage nach Arbeit muss stimuliert werden, um das Überangebot an Arbeitskraft abzubauen. HARALD CHRIST