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Archiv-Artikel

Auf der Suche nach freien Tagen

HAUSBESUCH Sie findet Landschaften inspirierend; er bringt den Müll raus und putzt gern. Bei Jessica und Andrew

„Ohne Natur und Frauen gäbe es diese Welt nicht“

Jessica Prescott

VON JULIA NEUMANN (TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Berlin, Kreuzberg, zu Besuch bei Jessica Prescott (29) und Andrew Ketteridge (29), Jessica: „Ich bin zwölf Tage älter, ich bin der Boss.“

Draußen: Ein Altbau, fünf Stockwerke, davor parken Autos. Der knallrote Van mit Schlafmuschel gehört den beiden.

Drin: Alle Wände weiß („schön rein“), ein Kaktus, Wachs von abgebrannten Kerzen über Glasflaschen, Totenköpfe. In der Küche („where the magic happens“) Petersilie, Minze, Frühlingszwiebeln in Wassergläsern („ich könnte gar nicht so viel anbauen, wie ich brauche“). Im Schlafzimmer eine Ikea-Tüte, Klamotten getürmt auf der Kleiderstange.

Was machen die zwei? Am liebsten reisen. Japan, drei Monate Indien, mit dem Van nach London, Barcelona, über Dijon bis Deutschland. Seit zwei Jahren leben sie in Berlin. Andrew schneidet Haare – bei den Leuten daheim. „Erst dachte ich, ich werde ein Pizza-Ausliefer-Typ, jetzt liefere ich Haarschnitte.“ In seinen schwedischen Armeerucksack packt er Scheren, Rasierer, Fön und Handfeger, dann radelt er zum Kunden. Jessica arbeitet „fürs Geld“ in einem Kosmetik-Geschäft und „aus Liebe“ gestaltet sie einen Blog mit veganen Rezepten. Sie will daraus ein Buch machen, zwei Verleger sind interessiert. Sie backt Kuchen für ein veganes Café („vier Euro Stundenlohn“), fotografiert, züchtet aus Essensresten von Avocados, Kartoffeln und Frühlingszwiebeln neue Pflanzen für eine Ausstellung.

Andrew: Geboren 1985 in einer Vorstadt Melbournes, englischer Vater, australische Mutter, zwei Geschwister. Mit 15 erzählte er seinem Friseur, dass er einen Job braucht. Der bot ihm an, Kaffee zu kochen und zu fegen („In einem Salon für Frauen zu arbeiten, ich dachte: Oh Gott, das Beste überhaupt“). Mit 18 wurde er für ein BWL-Studium angenommen, machte aber lieber die Friseurausbildung. Neun Jahre schnitt er in einem Salon, frisierte Models für Filme, wurde mit 25 zweitbester Friseur-Lehrer in Australien. Dann kündigte er: „Ich hatte diese aufgesetzte, künstliche Welt satt.“

Jessica: Geboren 1985 in Napier, Neuseeland, die Mutter war 16, „eine „Teenage-Mum“, der Vater nie da. Drei Jahre später ein Bruder von einem anderen Mann, nochmal drei Jahre, die Mutter trifft Kevin, „den Mann, den ich Vater nenne“. Mit 17 zog Jessica aus. „Ich habe ein Schuljahr übersprungen, man machte mir weis, ich sei superclever.“ Sie studierte in Wellington BWL und schmiss nach zwei Jahren hin. Eine Zukunft mit Bankjob sagte ihr nichts, sie wollte lieber die Welt erkunden. Sie wurde Kosmetikerin, heuerte auf einem Kreuzfahrtschiff an („mein Leben ist so kompliziert“). Sie lernte einen Jungen kennen, zog mit ihm nach Melbourne, machte Schluss, ging nach New York. Arbeitete im Restaurant, wies Leuten Tische zu, hängte Mäntel auf, war Tagesmutter. Nach 178 Tagen, zwei Tage vor Ablauf des Visums, flog sie nach Melbourne.

Was denkt sie? „Ich bin wie eine 50er-Jahre-Hausfrau, nur emanzipierter.“ Die Küche ist ihre Domäne. Hier hat sie ihre Frauen-und-Natur-Wand: Bilder von Klatschmohn, ein Hirsch, Rousseaus „Der Traum“. „Nackte Frauen und Landschaften inspirieren mich, ohne Natur und Frauen gäbe es diese Welt nicht. Männer denken, beides beherrschen zu können.“

Was denkt er? „Gesellschaftliche Normen verengen unser Denken.“ Er braucht Leute um sich, die ausprobieren, mit rohen Ideen inspirieren. „Wenn wir älter werden, verlieren wir diese kindliche Neugier.“

Das erste Date: Einen Tag nach Jessicas Ankunft in Melbourne, beim 24. Geburtstag ihres Mitbewohners. Sie dachte: „Das ist ein süßer Typ“, Andrew sprach nicht mit ihr. Unter dem Vorwand „Braucht ihr einen Haarschnitt?“ kam Andrew öfter vorbei. Drei Monate später nach Pizza und zu viel Alkohol der erste Kuss. Sie fragte: „Hey Andy, wollen wir verreisen?“ Nach vier Monaten tourten sie durch Australien.

Der Liebesbeweis: Weil keiner der Freunde nur einen Cent für den Haarschnitt gab, schenkte Jessica Andrew Kaffee. Der revanchierte sich mit Zigaretten „Die waren so teuer, 20 Dollar.“

Die Hochzeit: Sollte in Europa sein, war dann aber in Melbourne mit Eltern und Geschwistern. Sie trug ein hellblaues Kleid und offene Haare, er eine Cordhose mit orange-rotem Ikat-Muster („Jetzt hat sie ein Loch“). Kein Brautstrauß, kein Hochzeitstanz, keine Reden. „Wir sind zum Standesamt und haben im Park gefeiert“, sagt er. „Ein bisschen Las-Vegas-mäßig“, sagt sie.

Der Alltag: Am liebsten schauen sie den ganzen Tag Filme im Schlafanzug. Das geht leider nur selten. Ansonsten: Jessica radelt ins Geschäft, Andrew zu seinen Kunden („Ich versuche, vier Tage die Woche zu schneiden“). Gegen 20 Uhr kommt sie heim, kocht. An freien Tagen lädt sie Freunde zum Fotografieren ein, probiert Rezepte aus, „Sonntag ist Backtag“, malt an Schriften für ihren Blog, stellt alles online, wäscht ab. Wenn Andrew frei hat, hilft er ihr oder bringt den Müll raus. „Ich putze gern.“

Wovon träumen sie? Jessica von einem großen Stück Land, wo sie Karotten und Paprika züchtet, mit einer Bibliothek, „und einem Arbeitsaffen, den wir aus Spanien oder Marokko retten.“ Andrew von einem Pingpongtisch.

Wollen sie Kinder? Jessica gleitet mit den Händen über ihre Hüften: „Schau sie an, sie sind dafür gemacht, ein Baby rauszupressen.“ Sie will ein Kind bekommen, „damit mein Körper zufrieden ist“. Und sie will eins adoptieren. „Zu viele Kinder auf der Welt haben kein Zuhause.“ Aber jetzt wollen sie noch warten, reisen, frei sein. „Ich kann nicht abwarten, aber es kann warten“, sagt er.

Wie wichtig ist Geld? Andrew tauscht gerne Haarschnitte gegen Konzertkarten. Jessicas Motto: „Arm in der Tasche, reich im Kopf.“

Wie finden Sie Merkel? Jessica fällt nichts zu ihr ein. Andrew erinnert sie an sein Tantchen, „eine Wangen-Knufferin“.

Nächstes Mal treffen wir die Zwillinge Mathias und Hendrik Mahlow in Potsdam. Sie möchten auch einmal besucht werden? Schreiben Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de