DER FALL NITZSCHE ZEIGT DIE ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT DER CDU
: Merkel hat Angst vor der eigenen Courage

Inakzeptabel, ganz schlimm – an tadelnden Worten aus der CDU-Führung herrscht seit den schwulenfeindlichen und revanchistischen Äußerungen des Bundestagsabgeordneten Henry Nitzsche kein Mangel. Was jedoch fehlt, sind klare Konsequenzen, die Auskunft darüber geben, welche Maßstäbe in der Union eigentlich gelten. Der bisherige Umgang mit dem Rechtsaußen aus Sachsen offenbart nur eines: die tiefe Ratlosigkeit einer orientierungslosen Volkspartei im Umfragekeller, die nicht weiß, wo sie neue Wähler auftreiben kann: in der gesellschaftlichen Mitte oder am rechten Rand.

Nach wochenlangem Zögern hat die Union zwei widersprüchliche Signale ausgesendet. Einerseits lernen wir: Ein Politiker, der die früheren rot-grüne Koalitionäre als „Multikultischwuchteln“ bezeichnet und zum Umgang mit der Geschichte sagt, Deutschland sollte sich vom „Schuldkult“ lösen, muss als CDU-Kreisvorsitzender zurücktreten. Andererseits erfahren wir aus Berlin: In der CDU-Bundestagsfraktion darf derselbe Politiker ruhig bleiben. Für Nitzsche gilt bis auf Weiteres: Im sächsischen Kamenz-Hoyerswerda untragbar, als Abgeordneter in der Hauptstadt auf sicherem Posten. Verkehrte Welt? Nur auf den ersten Blick.

Es gibt Gründe, warum die Bundes-CDU mit Angela Merkel an der Spitze vor drastischen Maßnahmen gegen Rechtsausleger zurückschreckt. Auf dem Parteitag in Dresden hat Merkel erlebt, wonach sich viele in ihrer Partei sehnen: nach markigen Reden im traditionellen Duktus, die das alte Weltbild bestätigen. Merkels eigene Ausführungen über die Herausforderungen der Globalisierung ließen die Delegierten teilnahmslos über sich ergehen. Spontane Begeisterung kam erst beim Auftritt von CSU-Chef Edmund Stoiber auf, als dieser gegen „klassische Asylbetrüger“ wetterte.

Es ist Merkel hoch anzurechnen, dass sie es sich selbst verkneift, derart billigen Beifall abzuholen. Die Strategie der Kanzlerin aber, mit Integrationsgipfeln und familienpolitischer Modernisierung das liberale Großstadtpublikum zu bezirzen und schwarz-grüne Optionen zu eröffnen, wird nicht aufgehen, solange sie Scharfmacher wie Nitzsche gewähren lässt. Merkel wird sich entscheiden müssen, wen sie umwerben möchte. LUKAS WALLRAFF