: Auf dem Amazonas von Erkner
TAZ-SERIE STADTFLUCHT Ist die Stadt mal wieder zu voll? 40 Bahn-Minuten entfernt locken splitternackte Menschen auf Booten und quietschende Seerosenblätter
■ Wer kennt das nicht: die Stadt zu laut, zu groß, zu voll. Selbst die Sommerferien sorgen längst nicht mehr für Entschleunigung, die urlaubenden BerlinerInnen werden durch Schwärme von Touristen ersetzt. Wie gut, dass wir in Berlin leben: umgeben von idealen Ausflugszielen für Kurztrips, die näher liegen, als man oft glaubt.
■ In loser Reihenfolge fahren unsere AutorInnen ins Umland und schreiben darüber. Ihr Ziel können sie frei wählen, einzige Voraussetzung: Es muss für maximal 10 Euro erreichbar sein.
■ Die Reihe begann mit einer Tramfahrt nach Rüdersdorf (taz.berlin vom 3. August).
Es ist laut, voll und schmutzig auf der Warschauer Brücke in Friedrichshain. Hunderte Berliner und Touristen laufen, eilen und drängeln auf dem Gehweg neben der lauten vierspurigen Straße. An diesem Ort ist das Bedürfnis, aus der Stadt zu fliehen, besonders groß – aber auch besonders leicht zu befriedigen.
Mit einem ABC-Ticket geht es mit der S-Bahn vierzig Minuten in Richtung Südosten bis nach Erkner. Das Städtchen gehört bereits zu Brandenburg und ist ein wunderbarer Ausgangspunkt für eine Kajaktour. Vor den Toren der Stadt und doch jwd, janz weit draußen.
Nur wenige Minuten von der S-Bahn-Station entfernt glitzert das Wasser des Dämeritzsees, des größten Sees in Erkner, in der Sonne. Gleich am Anfang der Friedrichstraße kann man in einem Fachgeschäft Kajaks ausleihen. Wer aber eine längere Tour plant und sein Boot nicht schon am frühen Abend zurückgeben möchte, kann sein Kajak auch in „Kellings Schifferstube“ am östlichen Ufer mieten. Dazu muss man nur eine knappe halbe Stunde um den Dämeritzsee herumlaufen. Mit der Vorfreude auf ein kühles Bier zum Sonnenuntergang geht es von „Kellings Schifferstube“ aus raus auf den Dämeritzsee.
Der See, den sich Berlin und Brandenburg je zur Hälfte teilen, ist so etwas wie der Potsdamer Platz unter den fünf Seen in und um Erkner. An den Wochenenden konkurrieren Ausflugsdampfer, Motorboote, Yachten und Segelschiffe auf dem 100 Hektar großen Gewässer miteinander. Männer mit und ohne Bäuche hinterm Steuerrad jagen über das Wasser, Frauen mit und oben ohne leisten ihnen dabei Gesellschaft. Ein Mann steht splitterfasernackt auf seinem Motorboot. Schräg gegenüber von „Kellings Schifferstube“ vermeldet ein Schild 11,8 Kilometer bis Köpenick zum Müggelsee und 28,5 Kilometer bis Mitte.
Nach wenigen hundert Metern öffnet sich der See. Rechts fließt der Gosener Kanal, den die motorisierten Krachmacher vom Dämeritzsee befahren. Links öffnet sich mit dem Gosener Graben dagegen ein mit wenigen Metern breites Fließ, das für Fahrzeuge mit Motor verboten ist – der Eingang zu einem kleinen Paradies. Die Bäume rechts und links am Ufer bilden ein schattenspendendes Blätterdach, die Farne sind meterhoch gewachsen und von prächtigem Grün. Libellen ziehen ihre Runden, ein Kuckuck ruft. Und dann ist es plötzlich ganz still. Einzig das Eintauchen des Paddels ins Wasser ist zu hören. Lässt man sich treiben, ist eine ganz und gar großartige Stille zu vernehmen, die ab und an nur von Flugzeugen des Flughafens Schönefeld gestört wird. Immer wieder sind die Spuren von Bibern zu sehen, die mit ihren scharfen Zähnen Bäume wie Bleistifte angespitzt haben. Auf den Uferbefestigungspfählen wachsen Brennnesseln, Blumen und kleine Bäumchen. Gleitet das Kajak über dicke Seerosenblätter, quietscht die Plastikwand des Bootes leise. Der Amazonas von Erkner.
Nach etwa vier Kilometern fließt der Gosener Graben in den Seddinsee, dessen Ufer im Unterschied zum Dämeritzsee nicht bebaut ist. Biegt man gleich danach nach links, gelangt man in ein urwüchsiges Naturschutz- und Vogelschutzgebiet. Zuerst muss ein riesiger Teppich aus dicken Seerosenblättern umfahren werden, dann ist man mittendrin im Lebensraum von Haubentauchern, Blesshühnern und Trauerseeschwalben, deren Nester direkt auf den Seerosenblättern schwimmen. Würde jetzt nicht ein anderes Kajak um die Ecke biegen, hätte man das Gefühl, unbekanntes Terrain zu entdecken. Und wie immer stellt sich die Frage, wo sich am besten ein kühles Bad nehmen lässt: rüber zur Insel Seddinwall, wo man von der Gunst der Mitglieder des Landes-Kanu-Verbandes abhängt, der die Insel gepachtet hat? Oder doch zurück durch den Gosener Graben zur Müggelspree, einer Bundeswasserstraße, die den Müggelsee mit dem Dämeritzsee verbindet? An diesem Tag macht die Müggelspree das Rennen. Trotz großer Hitze ist das Wasser erfrischend kühl.
Nach sechs Stunden auf dem Wasser ist ein kühles Bier im Garten von „Kellings Schifferstube“ das Beste, was einem passieren kann. Einzig der Fußmarsch zurück zur S-Bahn fällt etwas schwer. In den S-Bahn-Wagen sitzen Jugendliche, die in die laute Metropole wollen, der man selbst entflohen ist.
BARBARA BOLLWAHN