Gefühlte Teilhabe

200 Bürger sollen heute mal das Gefühl haben, sie könnten mitbestimmen über Europas PolitikLaura Olbrich, 21, soll die Frage „Wer bin ich – in Europa?“ mit einem selbst gemalten Bild beantworten

AUS BERLIN HEIKE HAARHOFF
UND SANTIAGO ENGELHARDT (FOTOS)

Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft auf zwei Tage. Aus allen Teilen der Republik angereist, sitzen sie am Tisch im „Weltsaal“ des Auswärtigen Amts in Berlin. Der Zimmermann Sascha Nitsche, 37, aus Köln. Der promovierte Physiker Andreas Solyga, 66, aus Leipzig. Die Medizinstudentin Laura Olbrich, 21, aus Duisburg. Die pensionierte Schulleiterin Brigitte Rotzoll, 71, aus Berlin.

Sie sollen debattieren. Ach was, debattieren … eine Vision sollen sie entwickeln. Einen Zehn-oder-mehr-Punkte-Plan. Eine feierliche Erklärung. Für die Zukunft der Europäischen Union. Für deren Rolle in der Welt. Zur Frage, wie die Immigration in die EU zu regeln sei. Wie der Umgang mit der Energie zu steuern sei. Wie die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für Europas Familien aussehen sollten.

Große Politik, die sie ansonsten nur im Fernsehen verfolgen. Wenn überhaupt. Die Materie ist ihnen fremd, sie sind es sich auch. Sie kennen einander erst seit knapp drei Stunden. Aber das stört sie nicht. Stört sie nicht mehr. Denn sie sind nicht die Einzigen, die sich die „Europäische Bürgerkonferenz“ zumuten. Zweihundert Bürgerinnen und Bürger, repräsentativ für alle Bevölkerungsgruppen, ausgewählt nach Geschlecht, Alter, Bildung und Wohnort, hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Schirmherr der Veranstaltung, am Wochenende in Berlin durch seinen Staatsminister willkommen heißen lassen.

„Staatsminister?“, fragt Sascha Nitsche, der Kölner Zimmermann. Er schaut den ehrenamtlichen Moderator am Tisch fragend an. „Dat sin doch die, die man zufriedenstelle muss, oder?“ Der Moderator wird ein bisschen rot und murmelt etwas von den Unterschieden zwischen Ministern, Staatsministern und parlamentarischen Staatssekretären. „Na, egal“, sagt Nitsche.

Das Ziel ist heute, inmitten des Unmuts und der Verdrossenheit über die EU und ihre intransparenten Strukturen ein paar Menschen zumindest das Gefühl zu geben, sie könnten mitbestimmen über europäische Politik. In diesem Frühjahr finden deshalb in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten Bürgerkonferenzen statt, deren Forderungen, pardon: Empfehlungen, in eine „Europäische Bürgererklärung“ einfließen sollen. Drei Millionen Euro kostet die Kampagne. Den Löwenanteil trägt die EU-Kommission, die zufällig im Zentrum der Kritik an der EU steht. Den Rest finanzieren „nationale Partner“, im Fall Deutschlands die Robert-Bosch-Stiftung.

„Äußern Sie jetzt einfach einen Wunsch, wie es sein soll“, ermuntert der Tischmoderator den Zimmermann Nitsche, den Physiker Solyga, die Studentin Olbrich und die ehemalige Schulleiterin Rotzoll. Im Saal gibt es 21 runde Tische, die Gruppe um Nitsche hat sich das Thema Immigration ausgesucht.

Die „Europäische Bürgererklärung“ soll im Frühsommer im Europäischen Parlament den Spitzen der EU-Institutionen überreicht werden. Freilich nicht als Handlungsanweisung mit bindendem Charakter. Sondern „zur Inspiration“, wie die Bürger Nitsche, Solyga, Olbrich und Rotzoll erfahren. Außerdem soll die Erklärung dem EU-Gipfel im Juni, mit dem die Kanzlerin und ihr Außenminister ihre Ratspräsidentschaft beschließen werden, partizipativen Touch verleihen.

Der Tischmoderator verteilt farbige Pappkärtchen. „Schreiben Sie am besten einen Satz auf. Beginnen Sie mit ,Ich wünsche mir ein Europa, das …‘“ bittet er. Diese „Visionen“, verspricht er, werde er in seinen Laptop eintippen und per Mausklick einem Redaktionsteam übermitteln. Dieses werde die Visionen wiederum „sanft“ redigieren und mit den Ergebnissen der anderen runden Tische „verdichten“.

Die Kleingruppe will aber lieber diskutieren.

Rotzoll: „Immigration muss in einem verträglichen Maß stattfinden. Also nicht, dass Anatolien hier mit vierzehnjährigen Ehefrauen einmarschiert.“

Dr. Solyga: „Das ist ein heikles Thema. Bei der Vergangenheit Deutschlands.“

Olbrich: „Man muss darauf achten, dass die Ursachen für die Migration in den Heimatländern bekämpft werden.“

Rotzoll: „Neben meinem Haus war mal ein Flüchtlingsheim. Da gab es Geschäftemacher …“

Moderator, beschwichtigend: „Wir merken, Immigration ist ein vielfältiges Thema. Wir brauchen einen gemeinsamen Nenner.“ Er tippt etwas in seinen Computer. Zu lesen ist der Satz: „Wir wünschen uns ein Europa, in dem friedliches Leben bei erhaltender nationaler Lebensweise möglich ist.“ Er liest ihn der Gruppe vor. Er schickt ihn ab. Der runde Tisch lässt sich nicht stören.

Nitsche: „Ich finde, es ist legitim zu sagen, ich möchte aus wirtschaftlichen Gründen in ein anderes Land, wo es mir besser geht.“

Rotzoll: „Wenn wir sagen, alle Wirtschaftsflüchtlinge rein, dann haben wir drei Milliarden.“

Nitsche: „Prima, dann ist China leer, dann können wir dahin gehen. Unsere Stahlwerke …“

Rotzoll: „Ich war Schulleiterin im Wedding!“

Olbrich: „Hören Sie auf, ich wohne selbst im Ghetto, was wir brauchen, ist Ursachenbekämpfung.“

Nitsche: „… unsere Stahlwerke sind schon in China.“

Dr. Solyga: „Ich habe das Gefühl, hier gibt es eine Aversion gegen Türken, und dagegen wehre ich mich.“

Tischmoderator, verzweifelt: „In fünf Minuten wollen wir unsere Ergebnisse mit denen der anderen runden Tische diskutieren.“ Er schreibt: „Politische Flüchtlinge sollen jederzeit Einlass bekommen.“ Er sagt: „Darauf können wir uns verständigen, oder?“

Ein Gong ertönt. Kaffeepause. Zweihundert Menschen stehen Schlange am Buffet. Die meisten von ihnen hätten mehr zu bieten als Stammtischniveau, ließe man ihnen Zeit zum Reden und Nachdenken. Allen voran Nitsche, Rotzoll, Solyga und Olbrich. Sie haben sich genau überlegt, ob sie sich auf den Weg nach Berlin machen sollen, nachdem sie im Herbst nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden waren. Wenn sie sich bis dahin nicht sonderlich mit Politik, geschweige denn mit der EU beschäftigt hatten, dann taten sie es jetzt.

Laura Olbrich beispielsweise, die einundzwanzigjährige Medizinstudentin aus Duisburg. Nach dem Abitur arbeitete sie in einem Kinderdorf in Brasilien. Ihre Gedanken drehen sich seither um die Frage, wie eine kluge Politik aussehen könnte, die den Menschen vor Ort hilft und nicht in erster Linie die Interessen einzelner Nationalstaaten oder der Industrie berücksichtigt. „Aber dazu“, sagt sie, „müsste die EU mit einer Stimme sprechen, müsste ihre Entscheidungen transparent machen, müsste uns eine Möglichkeit geben, wirklich mitentscheiden zu können.“ Das Gegenteil sei der Fall.

Laura Olbrich hat gehofft, dass sie darüber in Berlin ausgiebig diskutieren können würde. Stattdessen musste sie eine Stunde damit verbringen, die Frage „Wer bin ich – in Europa?“ mit einem selbst gemalten Bild zu beantworten. Und jetzt dieser Druck, alle Wünsche möglichst schnell in einen Satz zu pressen. Damit diese Sätze wiederum kondensiert werden und die 200 Teilnehmer im Weltsaal via Ted-Abstimmung angeben können, welche der schwammigen Formulierungen ihnen am meisten am Herzen liegen. „Das ist Blabla“, sagt sie, „Beschäftigungstherapie“.

Deswegen aber seien sie nicht gekommen, sagt auch Brigitte Rotzoll: „Ich bin Kriegskind“, erzählt sie, „ich habe den Einmarsch der Russen erlebt, all die Vertreibungen. Europa muss so gestaltet werden, dass es keinen Krieg mehr gibt, es muss zur Friedenssicherung beitragen und mit einer Stimme sprechen.“ Darüber möchte sie sich unterhalten, will sie konkrete Vorgehensweisen entwickeln.

Aber wie, fragt sich der Physiker Andreas Solyga, soll es dazu kommen? „Ich habe meine Zweifel, ob das hier wirklich in den europäischen Entscheidungsprozess einmündet“, sagt er, „oder ob das nur wieder eine Alibiveranstaltung ist.“ Vermeintliche Partizipation kennt er noch aus der DDR. Er hat gelernt, Sprüche und Aktionen als hohl zu entlarven.

Bürgerkonferenzen haben es ja seit der französischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal zu einer gewissen Popularität gebracht. Aber was nützen sie, wenn keine Sanktionsmöglichkeiten mit ihnen verbunden sind? Anders gefragt: Wie ernst zu nehmen ist das Versprechen der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Margot Wallström, die in einer Videobotschaft an die Versammelten in Berlin behauptet, die Kommission werde den Bürgern „zuhören“ und von ihnen „lernen“? Anders als bei Royal haben diese Bürger keine direkte Möglichkeit, die politische Karriere der Margot Wallström oder die ihrer Kommissionskollegen im Zweifel per Votum zu beenden.

Sascha Nitsche, der Zimmermann aus Köln, hofft trotzdem, dass seine Berlinreise nicht umsonst war. „Wie man schon an der Abstimmung über die EU-Verfassung sehen konnte, gibt es dringenden Handlungsbedarf. Ein Dialog muss entstehen zwischen der politisch-repräsentativen Ebene und uns Bürgern. Wenn Europa es nicht hinkriegt, bürgernäher zu werden, dann besteht die Gefahr, dass es implodiert.“ Er kann ganz schön staatstragend werden im rheinischen Singsang.

Da mahnt ihn der Moderator, doch bitte wieder an den Visionen weiterzuarbeiten, „möglichst in einem Satz“.

Nitsche: „Wat denn, jetzt woll’n Se schon wieder Konsens?“

Der Tischmoderator: „…“

Nitsche: „Schon gut, wenn Sie keine Ergebnisse liefern, kriegen Sie kein Geld.“

Der Tischmoderator, säuerlich: „Ich mache das hier ganz ohne Geld.“

Nitsche: „Dann kriegen Sie kein Abendessen.“