piwik no script img

Archiv-Artikel

Geschichte plastisch werden lassen

PORTUGIESISCHER FILM Das Babylon Mitte widmet sich mit Filmen aus über 50 Jahren der bewegten, nicht immer krisenfreien Geschichte eines Landes. Und stellt die Frage nach seiner nationalen Identität

Ist nicht das Kino einer der repräsentativsten Wege, die Identität eines Volkes zu zeigen?

VON CAROLIN WEIDNER

„Ist nicht das Kino einer der repräsentativsten Wege, die Identität eines Volkes zu zeigen?“, fragt die Initiative Cinemagosto, die vom 16. bis 20. August im Kino Babylon Mitte insgesamt zwölf Filme aus Portugal auf die Leinwand bringt. Über fünfzig Jahre spannt sich ihre Zusammenstellung, ebenso lange wie der Verein Deutsch-Portugiesische Gesellschaft e. V. existiert. Anlass genug, einen besonderen Filmkörper mit einem Mehr an Aufmerksamkeit zu bedenken, der an diesen Tagen einen kräftigen Dokumentarfilm-Korpus hat.

Fünf verschiedene Programme haben die Macher von Cinemagosto kuratiert, welche die bewegte Geschichte des Landes zu fassen suchen. Ein jedes kommt mit einer extra Losung daher: Universalität, Gemeinschaften, Diktatur, Kolonialkrieg und Diaspora. Den Auftakt macht ein Dokumentarfilm von Miguel Gonçalves Mendes, „José e Pilar“ (2010), der das Liebespaar José und Pilar porträtiert. Doch ist insbesondere José nicht irgendein José, sondern José Saramago, Nobelpreisträger im Fach Literatur. Miguel Gonçalves Mendes begleitet ihn für eine Weile, zeigt die Eheleute in ihrem Haus auf Lanzarote, fährt mit ihnen nach Lissabon und auf Lesereisen. Ein symbolträchtiger und vor allem auch orientierter Film, der zugleich zum Schlusskapitel wird: José Saramago verstirbt im Jahr, das auch das Drehjahr von „José und Pilar“ ist. „Wie ist es, wenn man noch viel sagen könnte, aber nicht mehr genügend Zeit hat?“, fragt der Regisseur den Schriftsteller.

Mehr in der portugiesischen Bildhistorie verwurzelt: das Experiment „Painéis de São Vicente de Fora – Visão Poética“ (Wandbilder von São Vicente de Fora – Poetische Vision“) (2010) von Manoel de Oliveira, in dem die Wandbilder des Lissaboner Klosters mittels Schauspielern Plastizität erhalten, was ein wenig an „Die Mühle und das Kreuz“ von Lech Majewski erinnert, der vor einigen Jahren auf eindrucksvolle Weise Pieter Bruegels Gemälde „Kreuztragung Christi“ (1564) aufwendig reinszeniert hatte. Vom Museum zurück auf die Straße begibt sich Pedro Costa in „Juventude Em Marcha“ (Jugend voran!) (2006). Als Abschluss einer Trilogie, die das Ghetto-Viertel Fontaínhas in Lissabon und seine Bewohner zum Thema hat, bewegt sich Costa in „Jugend voran!“ auf den Bahnen von Ventura, einem kapverdischen Immigranten, der, so schreibt es Cinemagosto sehr schön, die letzten Tage seiner „Stadt aus Baracken“ mit ansehen muss.

Im Zeichen der Krise, so könnte man inhaltlich die letzten drei Programmabende zusammenfassen, die von den etwas schwammigen Formulierungen Universalität und Gemeinschaften abrücken: Diktatur, Kolonialkrieg, Diaspora. Dabei ignoriert gerade der Diktatur-Abend die vermeintliche Filmgesetzgebung: Susana de Sousa Dias unternimmt in „Natureza Morta“ (Stillleben) (2005) den Versuch, die Zeit der Estado Novo zu fassen, Portugals 48 Jahre andauernde Diktatur – und greift hierfür in erster Linie auf Archivaufnahmen zurück und montiert diese zu einem sehr eigenen Rhythmus. Im Gespräch mit Chris Wahl, einige Jahre nach Erscheinen von „Natureza Morta“ geführt, sagt Susana de Sousa Dias: „Ich suche nicht die Wahrheit dessen, was in einem bestimmten Moment der Geschichte passierte, sondern ich untersuche diese gesamte Bewegung aus der Vergangenheit in die Gegenwart, die im Gedächtnis derjenigen Personen steckt, die heute von vergangenen Ereignissen berichten, aber auch in den Bildern selbst.“ Ein besonderer Baustein im Cinemagosto-Quintett.

Das Programm zeigt außerdem Fernando Lopes’ semidokumentarischen Erstling „Belarmino“ (1964), der die Geschichte des tragischen Boxwunders Belarmino Fragoso erzählt. „Belarmino“ ist ein progressives Werk aus der Blüte des Cinema Novo, das inmitten von Alltagsrealismus, Stadtansichten, Sozialkritik und Jazz flaniert. Ob repräsentativ oder nicht, das soll jeder selbst entscheiden.

■ Cinemagosto: Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30, 16. bis 20. August, Infos: www.babylonberlin.de