: Unterwegs in der Merkel-Rinne
In jungen Jahren war die Bundeskanzlerin einmal am Nanga Parbat im Himalaya
Zuerst dachte ich mir nichts dabei, als der nahezu zahnlose Alte sich an meinen Tisch in einem Lokal des Berliner Ostens setzte, nicht achtend, dass ich konzentriert im Intelligenzblatt stöberte. Nicht nur, dass er meine Lektüre ignorierte, er sah auch nicht besonders gepflegt aus. Mit seinem selbstgewirkten Mützlein und seinem Jankerlein und seinen in Auflösung begriffenen Adiletten. Seine Haut erinnerte, rostbraun und zerfurcht, an das Äußere einer alten Aktentasche. Die Äuglein des Zahnlosen zeigten die typische Asiatenfalte, und seine Aussprache war auch irgendwie von da unten.
Extrem fiel es mir auf, als er immer wieder dieses „Melkel-Linne“ zwischen den wenigen Zahnsäulen zart speichelnd zu mir herüberspuckte. Ich winkte nur müde ab, denn irgendwie war ich mir sicher, einen dieser Blockflötenvirtuosen aus dem Inkareich vor mir zu haben, der gleich sein Instrument beziehungsweise eine vielbeinige Musikerverwandtschaft aus dem Hintergrund hervorzaubern würde, um ein unbeholfenes „Guantanamera“ ins Lokal zu schmettern. Das wollte ich unter allen Umständen vermeiden, aber der Alte gab und gab keine Ruhe und zischelte unentwegt dieses „Melkel-Linne“ zu mir hin. Bis ich resigniert die Zeitung zur Seite legte und ihm meine Aufmerksamkeit schenkte.
Er wolle zuerst einen Kräuterschnaps, sprudelte es aus dem Männlein, und eine Currywurst, dann würde er mir Sensationelles berichten. Ich sei doch von der Zeitung, und ich könnte reich damit werden. Ich musste herzlich lachen, und wer mich zum Lachen bringt, dem zahle ich gern einen Kräuterschnaps.
Kaum hatte der Inka oder Inder oder Türke, oder was immer er auch war, den Schnaps angesaugt, zog er einen uralten Zeitungsausschnitt aus den Tiefen seines Jankerleins und breitete die zerbröselnden Teile behutsam auf dem Tisch aus. „Melkel-Linne“, flüsterte er, nach allen Seiten schielend. Ich musste schon wieder lachen. „Brandneu ist die wohl nicht“, scherzte ich noch, als das Männlein mit lederhartem Finger auf ein vergilbtes Foto pochte: „Melkel-Linne“.
Ich beugte mich nachlässig über das Bild und wollte schon gelangweilt abdrehen. Da kam mir irgendetwas auf diesem Bild bekannt vor, obwohl nichts Besonderes darauf zu sehen war. Ein jüngerer, blonder Mensch, der ungelenk zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Kamera spreizte. Hinter ihm ragten weiße und wohl ziemlich hohe Berge in einen blassen Himmel. Am linken Rand des Bildes war ein halbes Gesicht – Ohr und Nasenflügel – zu sehen. Das alte Männlein sah mich strahlend an, tippte auf das halbe Gesicht und dann auf seine Brust: „Gay-Lay“. Ich verstand – Gay-Lay, das war er. Na prima, große Sensation. Ich saß mit Herrn Gay-Lay an einem Tisch in einer Kneipe des Berliner Ostens und sah zu, wie er sich auf meine Kosten eine Currywurst kommen ließ.
Meine sehr reduzierte Begeisterung war wohl offensichtlich, denn jetzt tippte er nochmals auf das Bild und den Berg, den man darauf sehen konnte: „Nanga Parbat“. Und dann zischelte er wieder: „Melkel.“ – „Aha“, ich wollte schon wieder resigniert abwinken, da machte irgendetwas in meinem uralten limbischen System „klick“. Ich beugte mich noch tiefer über das verblichene Bild, und dann wusste ich, was mir aufgefallen war: die Schlupflider. Die dünnfaserige Vorhangfrisur, das unbeholfene Victory-Zeichen. Ich sah dem Männlein tief ins Asiatenauge: „Melkel?“ Er nickte. Jetzt war ich scharf. Mein Recherche-Riecher, mein „Das ist eine heiße Kiste“-Anzeiger war in einer Sekunde auf Anschlag. Merkel am Nanga Parbat?
Ich bestellte noch einen doppelten Kräuterlikör. Und eine weitere Currywurst und dann erzählte dieses aktentaschenlederfarbige Männlein die unglaubliche Geschichte der Merkel-Rinne: Katmandu im Jahre 1975. Eine Expedition aus der DDR sollte den „Schicksalsberg der Deutschen“ neu vermessen und Geröllproben aus großer Höhe entnehmen. Unter den jungen Wissenschaftlern auch eine hoffnungsvolle Physikerin: Angela Merkel. Die einzige Frau unter den zwölf Teilnehmern. Bis auf sie waren es alles bergerfahrene Alpinisten, hungrig nach Abenteuern … Gay-Lay blinzelte zweideutig hinter seiner Asiatenfalte hervor: „Wilde Huhn“, drang es gackernd aus ihm heraus. „Unsere Angela?“ Ich staunte nicht schlecht. „Doch, doch!“ Der Aktentaschenfarbene rollte bedeutungsvoll mit den Augen: „Zauber von Berg. Nanga Parbat – heißt ‚Nackter Berg‘“.
Hoppla, das war mir neu. Für die Einheimischen sei der Berg ein bedeutender Wallfahrtsort, wenn es in der Liebe nicht mehr funktioniere, speichelte das Männlein. Wer dem Berg nahe komme, wäre gleich in seinem Banne und außer Rand und Band. Er warf den Kopf unter hechelndem Kichern heftig in den Nacken, dass ihm fast das Mützlein davongeflogen wäre. Dann tippte er wieder mehrmals auf das Foto: „Oha, ohaaa!“ Oha, oha? Unsere Angela?
Jetzt bestellte ich mir einen Kräuterschnaps und zückte mein kleines rotes Blöcklein, in das ich die ganz heißen Storys notiere. Es wurde ein langer Abend. In dessen Verlauf „Sahiba Merkel“ die Hauptrolle spielte. Außerdem eröffnete mir Gay-Lay, was Gay-Lay eigentlich bedeutet. Und sogar ich errötete sanft und schrieb schneller – die Geschichte vom „Nackten Berg“ und der „Buhl-Route“ und wie es dazu kam, dass die weltbekannte Merkel-Rinne den Namen Merkel-Rinne erhielt. Und ich schrieb und schrieb und nach dem neunten oder elften Kräuterlikör war ich mir sicher, dass diese Geschichte brisanter war als die Hitler-Tagebücher! Sogar wenn sie echt gewesen wären.
Ich war unsagbar glücklich und sah mich schon große, dicke Bücher schreiben und große, dicke Schecks entgegennehmen. Und nahm nur undeutlich und wie durch zarte Watte wahr, dass aus dem einen Männlein sechs oder sieben geworden waren. Die jetzt begannen mit Blockflöten zu hantieren, und nachdem ich für alle Kräuter und Currywurst bestellt hatte, erklang ein weithin hallendes „Guantanamera“. Wenn mich meine Kräuterlikör-geschwängerte Erinnerung nicht trügt, habe ich aus vollem Halse mitgesungen. ALBERT HEFELE