Unerwarteter Besuch

KRIEGSWIRTSCHAFT Eine Ausstellung in der Rathausdiele gibt Einblicke in das Schicksal ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und das Besuchsprogramm von 2001 bis 2013

VON ROBERT MATTHIES

Über das ganze Stadtgebiet waren sie verteilt. 1.299 Firmen-, Gemeinschafts-, Kriegsgefangenen-, Arbeits- und Konzentrationslager verzeichnet die auf der Grundlage der Dissertation der Historikerin Friederike Littmann erarbeitete interaktive Karte „Zwangsarbeit in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945“ (www.zwangsarbeit-in-hamburg.de). Dazu kommen über 900 Betriebe, in denen Menschen vor allem aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs von den nationalsozialistischen Deutschen zur Arbeit gezwungen wurden.

Eine halbe Million ausländische Männer, Frauen und Kinder mussten nach Angaben der Gestapo in den Kriegsjahren, verstärkt ab 1942, unter elenden Lebensbedingungen in Hamburg Felder bestellen, Rüstungsgüter produzieren, in Krankenhäusern und privaten Haushalten arbeiten oder Trümmer wegräumen.

Über ihr Schicksal wusste man bis in die 1990er-Jahre, als das Thema Zwangsarbeit im Zuge der Entschädigungsdebatte in Deutschland in den politischen Fokus rückte, wenig. „Umfassende Ausarbeitungen zum Thema gab es in Hamburg keine, auch Detailstudien über einzelne Lagerstandorte gab es kaum“, erklärt Katharina Hertz-Eichenrode. Seit 1992 ist sie Mitglied des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte Neuengamme, leitete von 2001 bis 2011 im Auftrag der Stadt mit der Unterstützung vieler ehrenamtlicher HelferInnen das Hamburger Besuchsprogramm für ehemalige ZwangsarbeiterInnen.

Dreizehn Jahre lang ermöglichte das Besuchsprogramm Menschen aus der Ukraine, aus Polen, Belarus, Russland, Tschechien und Lettland, über 50 Jahre nach dem Ende des Krieges noch einmal in die Stadt zurückzukehren, in die sie verschleppt worden waren und in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht haben. Für viele kam das Programm indes zu spät. Mit großer Mühe konnten 1.400 ehemalige ZwangsarbeiterInnen gefunden und eingeladen werden. Annehmen konnten die Einladung schließlich rund 400 von ihnen, viele konnten die Reise aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr antreten.

Einblicke in ihr Schicksal und das Besuchsprogramm gibt nun ab Donnerstag die von Hertz-Eichenrode kuratierte Ausstellung „Ich hätte nicht geglaubt, noch einmal hierher zu kommen“ in der Rathausdiele. Auf 48 Tafeln informiert sie über das Thema, 23 von ihnen porträtieren ZwangsarbeiterInnen, auf Bildschirmen sind Ausschnitte aus 226 lebensgeschichtlichen Interviews, Bildporträts aller eingeladenen Gäste und die interaktive Karte zur Zwangsarbeit zu sehen.

Viele der hier versammelten Informationen wären ohne das Besuchsprogramm undenkbar. „Unwahrscheinliche Schätze“ seien vor allem die zahlreichen Fotos und Dokumente, die die Gäste noch besessen haben, sagt Hertz-Eichenrode. Denn Feldmaterial gebe es in Hamburg so gut wie gar nicht mehr, Akten seien noch im Krieg zerstört oder später wissentlich beiseitegeschafft worden.

Die große Stärke der Ausstellung ist, dass sie nicht nur die Geschichte der ZwangsarbeiterInnen während des Zweiten Weltkrieges, sondern auch die Folgegeschichte in den Nachkriegsjahren bis zum Besuchsprogramm zeigt: Die (Nicht-)Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, die Stigmatisierung als „Vaterlandsverräter“ in der Sowjetunion und die Diskussion um eine Entschädigung.

Besonders berührend ist dabei zu sehen, welche Bedeutung das Besuchsprogramm für alle Beteiligten hatte, von ZwangsarbeiterInnen über ehrenamtliche HelferInnen bis zu SchülerInnen, die sich intensiv um einzelne Gäste kümmerten oder zu einzelnen Lagern forschten. Für viele sei die Rückkehr an den Ort der Zwangsarbeit ein Wechselbad der Gefühle gewesen, sagt Hertz-Eichenrode. Denn zum Schmerz und zur Trauer, die bei vielen auch im hohen Alter noch präsent seien, kämen nun die Freude und die Dankbarkeit über eine späte Anerkennung.

■ Do, 21. 8. bis Sa, 13. 9., Rathaus/Rathausdiele, Mo–Fr 7–19 Uhr, Sa 10–18 Uhr, So 10–17 Uhr. hamburg.de/ausstellung-zwangsarbeiter, zwangsarbeit-in-hamburg.de