: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
HOMESTORY Im Gespräch mit dem Ersten Weltkrieg – auf Besuch im friedlichen Lothringen
Unter weltweiter Anteilnahme feierte vor Kurzem der Erste Weltkrieg seinen Hundertsten. Die Wahrheit hat den rüstigen Jubilar in seinem beschaulichen Lothringer Domizil besucht.
Hécatombe-la-Gaillarde ist eine typische Siedlung in der französischen Provinz: 30 Prozent Rechtsextreme, 70 Prozent Arbeitslose, 100 Prozent Unzufriedene. Das Reihenhäuschen, das der prominenteste Einwohner des Bilderbuchdorfes bei Verdun bewohnt, unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den Nachbarhäusern.
Obwohl es heißt, er sei reicher als Bernie Ecclestone, protzt der Erste Weltkrieg nicht mit seinem Geld. Das Vorgärtchen ist liebevoll gestaltet. Zwischen bunten Blumenbeeten verlaufen pittoreske Schützengräben, aus denen Gartenzwerge in historischen Uniformen MGs auf den Besucher richten. Gipsrehe mit Gasmasken inmitten von Sandsäcken, Stacheldrahtverhauen und zu Blumenkübeln umfunktionierten Kampfpanzern vervollständigen das pastorale Bild.Schlachtfeld Hintergarten Gerade als ich den Klingelknopf drücken will, ertönen Detonationen und eine wütende befehlsgewohnte Stimme hinter dem Haus. Der Hintergarten sieht aus wie ein Schlachtfeld: Bombentrichter, zertrampelter, aufgeworfener Rasen, überall tote Vögel, Feldmäuse, Maulwürfe. „Die Biester sind Gift für meine Rosen“, ruft ein drahtiger Greis und kommt mir zur Begrüßung mit einem Bündel Handgranaten entgegen. Schäferhund Gaston und die beiden Kater Panther IV und Tiger II tollen fröhlich um seine Beine.
Wenig später sitzen wir im gemütlichen, mit Zinnsoldaten, Bajonetten, Feldpostkarten und leichter Artillerie vollgestopften Wohnzimmer. Der Gastgeber tischt auf, es gibt Graubrot mit Gulasch-Ersatz und Brennnesseltee, dazu selbstgebrannten Slibowitz. Obwohl er viel von der Welt gesehen hat, („nur in Amerika war ich leider nie zu Gast“) hat der 1914 in einem Kaffeehaus in Sarajevo als Sohn serbischer Wirrköpfe Geborene seine Wurzeln nicht vergessen. „Meine Anfänge waren schwierig“, sagt er und zündet sich eine Selbstgedrehte an. „Von den europäischen Großmächten wollte ja keine mich haben.“ – „Aber dann haben Sie alle Skeptiker und Zauderer überzeugt“, meine ich. „Zum Glück stand die Bevölkerung von Anfang an hinter mir und ist begeistert mitgegangen. 17 Millionen Tote können nicht irren.“ Kleine Atempause „Kam der Waffenstillstand denn als Enttäuschung?“, will ich wissen. „War da nicht noch mehr drin?“ – „Ach was“, winkt er ab, „die kleine Atempause hatten wir alle nötig, damit die Beteiligten sich wieder sortieren konnten. 14–18 steckte ich ja noch in den Kinderschuhen, vieles war suboptimal. Gucken Sie sich nur die Panzer von damals an, kaum mehr als Seifenkisten.“– „Ja, da ging es im Zweiten Weltkrieg deutlich professioneller zu“, sage ich. Der Erste Weltkrieg starrt mich an. „Wie jetzt … Zweiter Weltkrieg?“ – „Na, 39–45? Ihr Nachfolger im Amt?“
Der Erste Weltkrieg haut mit der Faust auf den Tisch, dass Schnapsgläser und Zinnsoldaten erklirren. „Es gibt nur einen Weltkrieg und das bin ich.“ – „Wollen Sie mir weismachen, 39–45 sei ein lokaler Konflikt gewesen?“, frage ich überrascht. „Aber das war doch ich selbst, in alter Frische.“ Der Erste Weltkrieg sieht mich an wie einen besonders begriffsstutzigen Rekruten. „Nach dem sogenannten Waffenstillstand ging es sehr flott mit dem polnisch-russischen Krieg von 1920 weiter. Ach, es war eine wilde Zeit. Und überall gewann ich neue Mitstreiter. Zu meinen traditionellen Verbündeten Patriotismus, Religion und Kapitalismus gesellten sich nun auch Faschismus und Bolschewismus.“ Er blickt verträumt in die Ferne. „Das einsame Highlight aber war mein Spanienurlaub – waren übrigens auch viele Deutsche da. Guernica war echt der Burner.“
„Und das alles wollen Sie – der Erste Weltkrieg – gewesen sein?“ So langsam scheint der alte Herr die Geduld mit uns zu verlieren: „Was glauben Sie denn? Nur ein blutiger Zivilist in seinem Elfenbeinturm verkennt die tieferen Zusammenhänge, die allen weltweiten Konflikten zugrunde liegen. Nach jedem Gemetzel heulen alle ‚Nie wieder Krieg‘ und während meine Partner aus Politik und Wirtschaft mich noch öffentlich verleugnen, sitzen wir längst wieder im Hinterzimmer und bereiten die nächste Episode vor.“
„Aber die langen Friedenszeiten geben doch Hoffnung?“ – „Feuerpausen“, verbessert mich mein Gastgeber, „wir Profis nennen es Feuerpausen.“ – „Gut, dann lassen Sie uns zum zweiten, pardon, zur nächsten Phase des Ersten Weltkriegs kommen, 39–45?“ – „Das war ein Knaller, was? Mal wieder mit meinen Freunden aus aller Welt durch die Botanik gefetzt und Europa in Trümmer gelegt. Vor allem die Deutschen haben ihre typischen Kämpferqualitäten gezeigt, aber Russen, Amis und Briten haben auch nicht schlecht gespielt und kleinere Nationen wie Belgien eben ihren Möglichkeiten entsprechend. Nur Frankreich und Italien, pfft?“
„Kein Wunder auch, dass alle so geplättet waren, danach“, sage ich. „Das Kriegsende hatte schon was von Antiklimax. Und merkwürdigerweise gaben am Ende alle mir die Schuld und wollten mich loswerden?“ – „Eben“, pariere ich triumphierend, „endlich war Frieden und der währt bis heute …“ – „Papperlapapp“, unterbricht er mich, „Sie haben immer noch nichts aus der Geschichte gelernt, junger Mann. Alle haben weitergemacht, nur anderswo. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.“
„Aber …“ Er unterbricht mich: „Gehören Korea, Algerien, Vietnam, Israel, Syrien, Jordanien, Ägypten, Nordirland, Falkland, Ruanda, Kongo, Mali, Somalia, Iran, Irak, Jugoslawien, Palästina, Georgien, Tschetschenien etwa nicht zu Ihrem Planeten?“ – „Sekundäre Konflikte“, werfe ich verzagt ein. „Wollen Sie meine Geschichte hören? Dann nennen Sie mir einen Krieg der letzten 50 Jahre, der ohne direkte oder indirekte Beteiligung von Russen, Amis und derer Verbündeten auskam?“
„Na gut. Was haben Sie nach 1945 so getrieben?“ – „Da ich mich in Russland ein wenig erkältet hatte, wollte ich eine Luftveränderung und habe Ostasien besucht. Erst Korea, dann Indochina. Viele meiner alten Freunde hatten dieselbe Idee, alles war voller Russen und Amerikaner. Es waren fruchtbare Jahre, viele Konflikte schwelen bis heute.“ – „Aber in Europa herrscht Frieden,“ sage ich starrsinnig. „Westeuropa“, verbessert er mich. „Da habe ich die kriegerischen Handlungen seit 1945 outgesourct und deshalb werden in Frankreich, Deutschland, Großbritannien etc. die Waffen jetzt störungsfrei produziert.“ Gelehrige Schüler „Im Übrigem gehe ich vor wie ein kluger Bauer: Schlachtfelder nicht zu intensiv bewirtschaften, sie auch mal ein paar Sommer brachliegen lassen, damit Boden und Bevölkerung sich wieder erholen.“ – „Wenn das so ist, dann sollten Sie den Nahen Osten mal verschnaufen lassen.“ – „Ach, die hören längst nicht mehr auf mich in ihrem Wahn, so gelehrige Schüler hatte ich selten. Und momentan werde ich eh anderswo gebraucht … “
Ein Motorengeräusch unterbricht uns. „Sie entschuldigen mich“, ruft er erfreut. „Mein Hubschrauber. Ich habe noch einen Termin in Donezk.“ Während er seine Kampfmontur anlegt, beklagt er sich über ewiggestrige Fans: „Mir scheint, als ob denen die alten Sachen besser gefallen, als meine aktuellen Arbeiten. Das frustriert ein wenig. Außerdem finde ich ‚Welt‘-Krieg so einen antiquierten Namen.“ – „Wie möchten sie denn gern heißen?“ – „Global“, sagt er, „nennen Sie mich Global.“ FRANCIS KIRPS