: „Wir müssen uns nicht einschränken“
Wenn die Menschen ihr Leben so durchdacht wie Ameisen organisieren würden, entstünde kein Abfall mehr, sagt der Chemiker Michael Braungart. Das funktioniere sogar in einer modernen Welt mit Autos, Handys oder Waschmaschinen
taz: Heute kommen aus Fabrikschornsteinen viel weniger Schadstoffe als vor 20 oder 30 Jahren, und in den Flüssen gibt es wieder mehr Fische. Das ist auch ein Verdienst der Umweltbewegung. Sie behaupten, das alles ginge in die genau falsche Richtung. Halten Sie also möglichst viel Dreck für besser?
Michael Braungart: Nein, aber wir haben in den letzten Jahren die falschen Dinge optimiert. Wenn Sie zum Beispiel Druckfarben nehmen, mit denen die taz und andere Zeitungen hergestellt werden, dann sind die heute tatsächlich weniger schädlich. Früher enthielten sie 80 krebserregende oder die Erbgutinformation verändernde Stoffe, heute sind es nur noch 20. Aber wo bitte schön ist der Unterschied, ob ich 20 oder 80 mal erschossen werde? Weil das Falsche verbessert wurde, ist es sogar um so gründlicher falsch.
Moment mal, die Gefahr ist immerhin reduziert worden, wenn auch nicht gebannt.
Gut, nehmen wir das Beispiel PET-Flaschen: Sie enthalten Antimon – auch ein krebserzeugendes Schwermetall. Früher war es zwar etwas mehr. Aber heute taucht die kleinere Menge in keiner Ökobilanz mehr auf, und die Verwendung ist weltweit legal. Wenn die Leute die Flaschen verbrennen, wie sie das etwa in Indien vielfach tun, dann holen sie sich Lungenkrebs ohne Ende. Dabei gibt es den ungefährlichen Ersatzstoff Titan. Aber er hat heute keine Chance, auf den Markt zu kommen, weil die Produktion mit Antimon optimiert wurde und niemand die neue Technik mit Titan weiterentwickelt.
Was wäre die Alternative zu solchen Fehlentwicklungen?
Man sollte positive Ziele vorgegeben, also zum Beispiel eine taz, die man auf den Kompost schmeißen kann oder die auf Folie gedruckt ist, die man immer wieder einsammelt und neu bedruckt. Unser Buch in den USA ist so hergestellt; bei 100 Grad können sie die völlig ungiftigen Farben abwaschen und dann ein neues Buch daraus herstellen. Menschen sind die einzigen Lebewesen, die Abfall erzeugen. Wir sollten uns an den Ameisen orientieren. Sie haben eine etwa viermal größere Biomasse als die Menschen und einen Kalorienverbrauch, der etwa 30 Milliarden Menschen entspricht. Dennoch sind sie keineswegs ein Umweltproblem – im Gegenteil, sie sind extrem nützlich. Es ist alles eine Frage unseres Umgangs mit den Stoffströmen.
Nun leben Menschen doch etwas anders als Ameisen. Die nutzen schließlich weder Handys, Autos oder Waschmaschinen. Sollen wir zurück in Busch und Höhle?
Nein, keineswegs. Wir müssen nur intelligenter produzieren. Alle Materialien, aus denen wir etwas herstellen, sind Nährstoffe. Dabei ist zu unterscheiden zwischen biologischen und technischen Nährstoffen. Schuhsohlen, Bremsbeläge oder Haarwaschmittel können so gestaltet sein, dass sie als biologische Nährstoffe in die natürlichen Kreisläufe zurückgehen und da nicht nur unschädlich, sondern sogar nützlich sind. Nehmen Sie zum Beispiel das Haarwaschmittel, das wir entwickelt haben. Es enthält nur fünf reine Substanzen und ist vollständig biologisch abbaubar. Obwohl die Inhaltsstoffe vier- bis sechsmal teurer sind als für ein konventionelles Haarwaschmittel, ist die Herstellung letztendlich sogar billiger, weil die Lagerhaltung, der Arbeitsschutz und die Standardisierung der Produktion wesentlich einfacher sind.
Wenn das so wäre, müssten ihnen ja die Firmen die Bude einrennen.
Tun sie ja auch. Das Top-Management und sehr viele junge Wissenschaftler interessieren sich für unsere Forschung. Das Problem ist nur, dass sich das mittlere Management angegriffen fühlt. 20 Jahre haben Sie die Menschen als Verbraucher – und damit als Schädlinge– deklariert. Jetzt können sie nicht plötzlich umschalten.
Aber es gibt ja viele technische Gegenstände, die ohne gefährliche Schwermetalle gar nicht herzustellen sind. Sollen wir etwa auf Computer und Fernseher verzichten?
Es geht nicht um Verzichten und Vermeiden. Genau das ist das Denken dieser Schuldgefühl-Generation. Bei gefährlichen Stoffen oder solchen, von denen wir nicht genau wissen, ob sie gefährlich sind, können wir verhindern, dass sie Kontakt mit der Biosphäre haben. Ein Fernseher wird ja nicht verbraucht, sondern nur genutzt. Deshalb ist es viel sinnvoller, den Menschen nicht wie heute den Sondermüll Fernsehen als Eigentum zu verkaufen, wenn sie doch nur die Tagesschau anschauen möchten. Man verkauft ihnen die Dienstleistung Fernsehen und belässt das Eigentum beim Hersteller. Der entwickelt die Logistik, damit die gefährlichen Stoffe in der Technosphäre bleiben.
Vergleichen Sie mal einen Fernseher von heute mit Ihrer Idealvorstellung.
Im Moment sieht es so aus, dass man für jedes Teil im Fernseher das Billigste verwendet. Dieser Fernseher hier zum Beispiel enthält 4.360 verschiedene Chemikalien. Im besten Fall wird daraus später eine Parkbank. Wenn von Anfang an sehr hochwertige Kunststoffe verwendet würden, könnte das Material später auf eine Warenterminbörse verkauft und danach zum Beispiel für Autoteile, Unterhaltungselektronik oder Fensterrahmen eingesetzt werden. Da der Hersteller die Materialien behält, kann er die besten Materialien verwenden. Das ist auch gut für den Nutzer, denn unter den heutigen Bedingungen gasen sehr viele Materialien Schadstoffe aus. Die Folge ist, dass die durchschnittliche Innenraumluft heute drei bis fünfmal belasteter ist als die Hamburger Außenluft. Über die Hälfte aller 7-Jährigen haben inzwischen Allergien.
Solche Dienstleistungsangebote, wie Sie sie für Ihr Konzept benötigen, gibt es noch relativ wenig, oder?
Nein. Die Firma Shaw aus den USA – der weltgrößte Teppichbodenhersteller – leiht zum Beispiel seine Teppichböden aus. Wenn einem Kunden sein Fußboden nicht mehr gefällt, bekommt er einen neuen. Shaw nimmt das Material zurück und bereitet es neu auf. Wir haben die Zutaten von Anfang an so festgelegt, dass das immer im Kreis geht.
Mit Teppichen mag das gehen. Wie ist es mit Autos?
Wir haben für Ford ein Auto entwickelt, das so konstruiert ist, dass ich dem Kunden maximal fünf Jahre Autofahren und 100.000 Kilometer inklusive Steuern, Treibstoff, Wartung und Versicherung verkaufe. Nach fünf Jahren geht das Auto zurück in ein Tauchbad. Die Karosserie ist nicht geschweißt, weil Schweißverbindungen schwer zu trennen sind. Deshalb hat das Auto Klebeverbindungen, die von speziellen Enzymen aufgefressen werden können. Anschließend kann ich das Auto dann wie ein Lego-Spielzeug auseinander nehmen. Ich kann die Bauteile dann wieder verwenden oder etwas Neues, Gleichwertiges daraus herstellen.
Eine schöne Vision: Die Menschen verursachen keine Umweltprobleme mehr und müssen nicht einmal ihren Wohlstand einschränken.
Wenn die Menschen sich abgewöhnen, Abfälle zu produzieren, dann können sie für die Biosphäre sogar sehr nützlich sein – so wie die Ameisen. Dann könnten wir sogar viel mehr sein als heute, und die Menschenrechte würden endlich für alle gelten, während heute Millionen durch Unterernährung oder verschmutztes Wasser sterben.
INTERVIEW: ANNETTE JENSEN