piwik no script img

Archiv-Artikel

„Wir brauchen Unterstützung“

Nach Klaus Wowereit melden sich die Kreuzberger zu Wort. Natürlich gebe es Probleme, aber auch viele gute Ansätze. Sagen die einen. Die andern haben ihre Kinder in anderen Bezirken eingeschult

Gesammelt von ALKE WIERTH

Dorothea Mandera, stellvertretende Leiterin der Fichtelgebirge-Grundschule im Wrangelkiez: „Was Herr Wowereit gesagt hat, ist fast beleidigend. Er macht damit kaputt, was wir hier seit Jahren mühsam aufbauen. An unserer Schule gibt es eine Lernwerkstatt, ein Elterncafé, Elternseminare und viele Projekte mehr. Doch solche Aussagen bestätigen wieder alle Vorurteile, die über Kreuzberger Schulen bestehen. Von den 68 zukünftigen Erstklässlern, die in unserem Einzugsgebiet leben, sind in der diesjährigen Anmeldephase 16 an anderen Schulen angemeldet worden. Ich befürchte, dass künftig noch mehr Eltern mit dem Gedanken spielen, nicht zu uns zu kommen.“

Abit Kazci, Arzt, Elternvertreter und Vater eines Kreuzberger Grundschülers: „Eigentlich begrüße ich die Äußerungen von Wowereit, weil er den Finger in die Wunde legt. Wir haben auch lange überlegt, unseren Sohn in einem anderen Bezirk einzuschulen. Wir haben uns dagegen entschlossen, weil er sich an seiner Schule gut eingewöhnt und dort seinen Freundeskreis hat. Natürlich sind die Probleme immer noch da. Was mich vor allem stört, ist, dass mein Sohn nicht richtig Deutsch lernt. Aber wir versuchen eben, selbst etwas dran zu ändern, indem wir ihm Wissen vermitteln. Aus welchen sozialen Schichten oder Herkunftsländern seine Mitschüler kommen, ist mir egal. Es ist ja eine Bereicherung, wenn das gemischt ist.“

Safter Cinar,Vorsitzender des Türkischen Elternvereins Berlin-Brandenburg: „Wowereit hat recht, wenn er sagt, dass viele Eltern aus den Innenstadtbezirken wegziehen oder ihre Kinder anderswo anmelden, weil sie den Schulen da nicht trauen. Aber wie er das dargelegt hat und wem er die Schuld zuweist – nämlich den Migranten: Ich dachte, wir wären an diesem Punkt weiter. Dass Eltern skeptisch sind, ob ihre Kinder an Schulen in der Innenstadt angemessen gefördert werden, kann ich verstehen. Denn Statistiken oder Ergebnisse von Vergleichsarbeiten zeigen, dass diese Schulen in vielen Bereichen unter dem Durchschnitt liegen. Das hat zwei Gründe: Zum einen sammelt sich dort eine soziale Gruppe, die in einer ökonomisch schwierigen Situation ist. Und zum Zweiten ist das Bildungssystem trotz aller Reformversuche immer noch nicht auf diese Klientel eingestellt. Aber Klaus Wowereit ist ja seit Jahren in der Regierungsverantwortung. Er hätte längst etwas gegen diese Probleme unternehmen können.“

Rainer Völkel, Direktor des Robert-Koch-Gymnasiums in Kreuzberg: „Ich bin entsetzt, ebenso wie mein ganzes Kollegium. Es lohnt sich nicht, sich ernsthaft mit diesen Äußerungen auseinanderzusetzen. Deshalb will ich dazu gar keinen weiteren Kommentar abgeben.“

Ute Nennecke, Vorstand des Bezirkselternausschusses Kita in Kreuzberg: „Da kann ich nur sagen: schöne Scheiße! Im Ernst: Das tut der Situation hier nicht gut. Ich lebe im Wrangelkiez. Es gibt hier in der Umgebung drei Grundschulen, die sich furchtbar anstrengen, gute Konzepte zu entwickeln, vernünftige Arbeit zu machen. Und sie machen das so gut, dass sie mittlerweile auch wieder deutsche Eltern anziehen. Und nun kommt der Wowereit und erzählt solchen Mist! Hier entwickelt sich ja noch mehr: Es entstehen neue Läden, Clubs, junge Leute ziehen her. Und es ist wichtig, dass die nicht wieder wegziehen, wenn ihre Kinder in die Schule kommen. Ich halte es da mit Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky: Es muss viel mehr Geld und viel mehr Personal an die Schulen hier. Dann werden wir hier bald Schulen haben, die die Eltern aus anderen Bezirken richtig neidisch machen!“

Anna Weber, Kreuzbergerin, Elternvertreterin und Mutter eines 15-jährigen Sohnes: „Ich habe meinen Sohn nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium außerhalb Kreuzbergs geschickt, und ich bereue das mittlerweile bitter. Denn auf den Schulen in anderen Stadtteilen gibt es ebenso viel Gewalt und Probleme wie hier in Kreuzberg. Dort wird nur anders gedeckelt: Die Probleme kommen nicht an die Öffentlichkeit. Mein Sohn ist bereits viermal überfallen worden, aber nie in Kreuzberg. Ich bereue die Entscheidung auch deshalb, weil er sein soziales Netz hier in Kreuzberg fast verloren hat. Kinder sollten da zur Schule gehen, wo sie leben.“

Ada Hannerth, Elternsprecherin, Kreuzbergerin und Mutter von zwei Grundschulkindern: „Wowereit hat anscheinend die vielen Protestschreiben engagierter Eltern gelesen. Denn wenn man die kennt, muss man sich wirklich überlegen, ob man sein Kind hier zur Schule schickt. Die Sparmaßnahmen des Schulamts in den vergangenen drei Jahren haben die Situation hier extrem verschlechtert. Personalmangel, aber auch die Raumnot hat zu teils katastrophalen Zuständen geführt. Wowereit hat aber wohl nicht gemerkt, dass es in Kreuzberg gute Schulen gibt. Die Heinrich-Zille-Schule wurde 2004 als beste europäische Integrationsschule ausgezeichnet. Aber die gute Arbeit der hier Engagierten wird leider durch die Bedingungen, die das Schulamt und der Senat festlegen, immer wieder ausgebremst. Trotzdem: Ich will hier nicht weg.“

Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbandes und Leiterin einer Kreuzberger Grundschule: „Wowereits Worte drücken mangelnde Wertschätzung für die Arbeit in sozialen Brennpunkten aus. Er sollte sich stattdessen dafür einsetzen, dass es Chancengerechtigkeit für Kinder in allen Bezirken gibt. Ich erwarte vom Regierenden Bürgermeister, dass er sich ernsthaft mit den Problemen auseinandersetzt und dass er seinen neuen Bildungssenator dabei unterstützt, dass auch in Brennpunkten gute Schulen entstehen. Notwendig dafür sind Hilfe bei der Sozialarbeit bereits an den Grundschulen und Sicherheit in der personellen und sächlichen Ausstattung.“

Hakan Ünol, Besitzer des Friseursalons „Hairlounge“ in Kreuzberg, Vater eines 3-jährigen Sohns: „Wir haben uns entschlossen, unseren Sohn auf die Private Kantschule zu schicken. Er besucht jetzt schon dort die Kita. Mir passt es nicht, wie die Kinder hier in Kreuzberg aufwachsen. Viele bekommen keine vernünftige Erziehung. An den Schulen geht dann alles schief. Die Kinder können nicht richtig Deutsch, kommen nicht mit und haben später keine gute Bildung und deshalb keine Zukunftschancen. Die Lehrer und Erzieher haben auch viele Vorurteile. Das alles zusammen wirkt sich aus. Ich habe Angst davor, dass mein Sohn auch so wird wie die Jugendlichen hier: Sie hängen auf der Straße ab, es gibt Drogen, Banden, Abzockerei. An der Kantschule gibt es kaum Ausländer. Das hat auch Nachteile: Manchmal finde ich es einfach zu deutsch da. Optimal wäre für uns eine multikulturelle, aber trotzdem gute Erziehung.“

Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, Kreuzberger und Vater zweier Kinder (7 und 17): „Ich bin selbst in Kreuzberg zur Schule gegangen, meine beiden Kinder tun das auch. Wir haben das nicht bereut. Vor zwei Wochen habe ich in New York Erkan Emre, einen ehemaligen Kreuzberger Schüler, getroffen. Er arbeitet als Architekt im Büro von Peter Eisenman und hat das Holocaust-Mahnmal mit entworfen. Solche Beispiele gibt es sehr viele.“

Ahmad Ohadi, Mitglied im SPD-Kreisvorstand Friedrichshain-Kreuzberg und Kreuzberger: „Natürlich spricht Klaus Wowereit da eine Wahrheit aus. Die Probleme an den Schulen sind bekannt. Ich bin selber in Kreuzberg zur Grundschule gegangen, die Oberschule habe ich aber in Charlottenburg besucht – wegen der Probleme, die Wowereit angesprochen hat. Das war eine persönliche Abwägung: Was ist für meine Zukunft besser? Bei meinen eigenen Kindern würde ich es ebenso machen. Aber ob das ein Regierender Bürgermeister, der ja die ganze Stadt vertreten soll, in einer bundesweit ausgestrahlten Fernsehsendung sagen sollte – da habe ich meine Zweifel.“