Legendäres Pop-Prekariat

KÜCHENGLAMOUR Alles muss man selber machen – sogar die Zukunft: Kirsten Hahn alias Kitty Solaris macht federleichten Frühlingspop. Ihre Songs schreibt sie neben dem Herd und produziert sie für ihr eigenes Label

Musik, die einen Frühlingstag ein wenig wärmer werden lässt. In einer gerechten Welt würde sie ein Hit

VON THOMAS WINKLER

Dies ist also die berühmte Küche. Alter Gasherd, eine noch ältere Kochmaschine, Kühlschrank, Spüle, Arbeitsplatte über einem Regal, ein abgenutzter Dielenboden. Nichts Besonderes, gar nicht. Nur: Am Fenster lehnt eine Gitarre, und Kirsten Hahn stöhnt: „Anscheinend komme ich aus der Küchenecke nicht mehr raus.“

Nicht, dass sie nicht allerhand dagegen unternommen hätte. Kirsten Hahn ist eine der umtriebigsten Figuren im musikalischen Leben Berlins: Unter ihrem Pseudonym Kitty Solaris veröffentlicht sie seit Jahren von der Kritik gelobte Musik, sie organisiert eine längst legendäre Konzertreihe und betreibt auch noch ein Label, dessen Namen Solaris Empire mittlerweile für verlässliche Qualität steht. Es war ihr eigener Fehler, dass sie trotzdem in die Ecke geriet, in der sie sich jetzt eingesperrt fühlt. Damals erzählte sie einem Journalisten, dass ihre Lieder in der Küche entstehen. Die Heizung in der Wohnung funktionierte gerade nicht, der Gasherd brachte immerhin die Küche auf menschenwürdige Temperaturen, und die Geschichte war eine ganze Weile lang eine ganz nützliche Legende, ein Stoff, der ihr Aufmerksamkeit bescherte. Heute schreibt Kitty Solaris ihre Lieder zwar aus alter Verbundenheit immer noch hier neben ihrem Herd, aber das Alleinstellungsmerkmal wurde zum Selbstläufer, das daraus folgende Image stimmt schon lange nicht mehr. Denn Kitty Solaris ist nicht Lo-Fi-Folk aus der Küche, sondern mehr. „Ich will Popmusik machen“, sagt sie bestimmt.

Hört man ihr neues Album, „Golden Future Paris“, muss man sogar sagen: Kitty Solaris will nicht nur Pop machen, sie macht ganz eindeutig Pop. Ganze wundervollen zudem, federleicht, eingängig und voller prägnanter Melodien. Musik, die einen warmen Frühlingstag noch ein bisschen wärmer werden lässt. Dieses, ihr viertes, Album ist sicherlich ihr bestes bisher. Vollkommen verschwunden sind der reduzierte Sound der frühesten Aufnahmen und eine einstmals durchaus vorhandene Liedermacherinnenanmutung, die auch dadurch entstand, dass ihr erster Auftritt Ende des vergangenen Jahrhunderts in der Wohnzimmerbar am Helmholtzplatz stattfand. Stattdessen finden elektronische Beats und akustische Instrumente friedlich zusammen, die Gitarren brummen wie ein glücklicher Bär, getragene Bläser und Percussion sorgen für Tiefe und rhythmische Raffinesse, während Hahn ihr Faible fürs Tanzen auf dem Tisch besingt.

In einer gerechten Welt würde „Golden Future Paris“ ein Hit. In dieser Welt hat es Hahn immerhin zum Covergirl gebracht. Fotogen rafft sie ihr blondes Haar momentan in Bahnhofskiosken, denn das Missy Magazine hat sie auf den Titel gehoben. Nun steht sie also in einer Reihe mit Kate Nash, M.I.A., Janelle Monáe, Peaches oder Christiane Rösinger, die alle schon die feministische Zeitschrift verkaufen sollten, und wird gefeiert als Ikone weiblicher Durchsetzungsfähigkeit in einem immer noch männlich dominierten Gewerbe. Dabei war es eher Zufall, dass Hahn zur Herrscherin eines Imperiums wurde. Weil sie auftreten wollte, organisierte sie Konzerte selbst: Daraus entstand die bis heute existierende „Lofi-Lounge“ im Schokoladen. Und weil sie nach ersten Absagen keine Lust mehr hatte, sich bei Plattenfirmen anzubiedern, gründete sie ihr eigene, nannte sie Solaris Empire und durfte schnell feststellen, dass es offensichtlich einen Bedarf für selbstausbeuterische Labelarbeit gibt. Seitdem hat sie Platten veröffentlicht von Marta Collica, Bernard Eder, Kat Frankie, My Sister Grenadine oder zuletzt Sarsaparilla. Die wurden zum großen Teil hoch gelobt, aber die Verkaufszahlen werden selten vierstellig, und sie führt folgerichtig, sagt sie leise lächelnd, „ein Leben im Prekariat“.

Ein Label aufzumachen in Zeiten sinkender Absatzzahlen im Musikgeschäft, das ist „verrückt“, weiß die 41-Jährige, die in Marburg aufwuchs, selbst. „Aber an manche Dinge muss man auch naiv rangehen, sonst würde man sie erst gar nicht versuchen.“ Die Musik, die sie veröffentlicht, bringt ihr zwar keine Reichtümer ein, aber „andererseits ist es doch auch ein Luxus, genau das machen zu dürfen, was man möchte und was einem Spaß macht“. Ihr Lebensmotto, sagt sie, sei „Do or Die“, ein alter Plattentitel von Nico: „Man kann doch nicht warten, bis jemand anderes kommt, man muss selber machen.“

Ihr Optimismus hat nach all den Jahren, in denen sie am Existenzminimum ein funktionierendes, aber kaum lukratives Netzwerk aufgebaut hat, allerdings ein wenig gelitten. „Golden Future Paris“, sagt sie, ist „so etwas wie eine letzte Chance.“ Dieses Popalbum muss nun auch seine Funktion als Pop erfüllen: „Jede Chance birgt auch ein Risiko. Ich habe nicht vor zu scheitern, aber in den nächsten ein, zwei Jahren wird sich das entscheiden.“ Ob es klappt als Musikerin, die auch von ihrer Musik leben kann, meint sie.

Diese Stimmung zwischen Hoffen und Bangen findet sich auch in ihrer Musik wieder, die eine heitere Melancholie ausstrahlt. „There’s never a lack of money, there’s never a lack of love“, singt Kitty Solaris, „a golden future lies in front of us“. Die goldene Zukunft, die Kitty Solaris nun wirklich verdient hätte, die könnte allerdings anderswo stattfinden. Ihre Mietwohnung in Prenzlauer Berg hat eine chinesische Käuferin gefunden, und die hat auf Eigenbedarf geklagt. Hahn muss raus, weiß aber noch nicht, wohin. Vielleicht geht sie auch weg aus Berlin. Südamerika findet sie sehr spannend. Aber wo auch immer Kitty Solaris demnächst ihre Zelte aufschlagen wird: Die Küche jedenfalls, die ist sie bald endlich los.

■ Kitty Solaris: „Golden Future Paris“ (Solaris Empire/Broken Silence), live in Berlin, 18. 6., Wabe