Kopfschüsse und Tränengas

WUT Vor neun Tagen wurde Michael Brown erschossen. Seitdem nimmt der Protest in Ferguson nicht ab. Jetzt rückt die Nationalgarde an

■ Lage: Ferguson gehört zur Metropolregion St. Louis im südwestlichen Bundesstaat Missouri.

■ Einwohner: Von den rund 21.000 Einwohnern sind knapp 70 Prozent afroamerikanischer Herkunft, die meisten Würdenträger sind jedoch Weiße. Der Großraum von St. Louis weist eine der stärksten ethnischen Segregationen der USA auf.

■ Kriminalität: St. Louis gehört zu den gefährlichsten Städten der USA. Zusammen mit Detroit und New Orleans hat es die höchste Mordrate im Land.

■ Armut: Im Raum St. Louis leben 32,4 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. (sny)

Quelle: United States Census Bureau, 2009

AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN

„Mein Vetter war kein Tier“, ruft Ty Pruitt ins Mikrofon. „Aber so ist er getötet worden.“ Der junge Mann steht mit erhobenen Händen vor den 1.200 Menschen, die am Sonntag zu einer Gedenkveranstaltung für den von einem Polizisten erschossenen Michael Brown in die Greater Grace Church in Ferguson gekommen sind. Unter den Anwesenden sind die Mutter des Toten. Prominente und altgediente Bürgerrechtler, die von der Ostküste angereist sind. Und Aktivisten der New Black Panther, die in den vergangenen Tagen stark auf der Straße in Ferguson vertreten sind. Die Versammelten erheben ihrerseits beide Hände.

Dieses Symbol steht für den 18-jährigen Michael Brown, den der 28-jährige Polizist Darren Wilson am 9. August auf der Straße erschoss. Bevor er das Feuer auf Michael Brown eröffnete, der mit einem Freund mitten auf der Straße spazierte, rief der Polizist den beiden Jungen aus seinem Wagen zu: „Get the fuck off the street“.

Am Montag, eine Woche und zwei Tage nach Michael Browns Tod, hat der Gouverneur von Missouri, der Demokrat Jay Nixon, die Nationalgarde um Hilfe gerufen. Nach der Lokalpolizei und nach der State Highway Patrol ist es die dritte uniformierte Truppe, die in Ferguson für eine Rückkehr zu einem Normalzustand sorgen soll.

Am gleichen Tag veröffentlichte auch der von der Familie Brown engagierte Gerichtsmediziner in New York die Ergebnisse seiner Autopsie des 18-jährigen Toten. Resultat: Alle Kugeln trafen Michael Brown von vorne. Vier trafen ihn in den Arm, zwei in den Kopf. Dr. Michael M. Baden, der vor seiner Verrentung für die Stadt New York gearbeitet hat und schon Expräsident John F. Kennedy und Martin Luther King jr. obduziert hat, stellt außerdem fest, dass Michael Brown, dessen Leiche stundenlang auf dem Asphalt liegen blieb, auch gestorben wäre, wenn er umgehend in ein Krankenhaus gebracht worden wäre.

Die örtlichen Ermittlungsbehörden hingegen haben immer noch nicht ihre Autopsieergebnisse veröffentlicht. Und schweigen auch weiter über sämtliche anderen Tatumstände. Sie haben – und auch das erst fünf Tage nach dem Geschehen und nach erheblichem Druck aus Washington – lediglich den Namen des Todesschützen, des weißen Polizisten Darren Wilson, veröffentlicht. Seine Anschuldigungen gegen Michael Brown wegen einer Verwicklung in einen Raubüberfall, bei dem Zigarren im Wert von 48,99 Dollar erbeutet wurden, hat der Chef der Polizei inzwischen zurückgezogen. Er gab zu, dass der Todesschütze nicht einmal von dem Raubüberfall gewusst hatte.

Angesichts der 53 lokalen Polizisten – darunter nur drei Afroamerikaner – in Kampfuniform, mit Gasmasken und in minensicheren Panzerwagen, sagte ein US-Kriegsveteran: „Als wir in den Irak einmarschiert sind, waren wir nicht so gut ausgerüstet.“

In Washington wollten am Montag Präsident Barack Obama und Justizminister Eric Holder über die nächsten Schritte beraten. Das Justizministerium will eine eigene – dritte – Autopsie des Leichnams veranlassen.

■ Slogan: „Hands Up – Don’t Shoot“ ist der Slogan einer neuen Bewegung geworden. Sie ist am frühen Nachmittag des Samstag, 9. August, entstanden: In der Mitte des Canfield Drive in Ferguson, wo der 18-jährige Michael Brown von sechs Polizeikugeln getroffen wurde. Er hatte laut Augenzeugenbericht vor den tödlichen Schüssen seine Hände erhoben.

■ Der andere Fall: 2012 war der unbewaffnete 17-jährige Trayvon Martin in Sandford, Florida, erschossen worden. Der Täter, der 28-jährige Hispanic George Zimmerman, habe in Notwehr gehandelt, sagte er später vor Gericht – und wurde freigesprochen. In der Folge war der „Hoody“ (Kapuzenpulli) zum Symbol geworden. (sny)

Den Einsatz der Nationalgarde begründet Gouverneur Nixon mit den nächtlichen Plünderungen und der Gewalt gegen Sachen und Personen. Die Nationalgarde ist die älteste militärische Truppe der USA. Sie existierte schon zu britischen Kolonialzeiten. Sie hat in zahlreichen US-Kriegen im Ausland gekämpft. Und sie kam im Inland unter anderem in dem Chaos nach dem Hurrikan „Katrina“ in Louisiana zum Einsatz. Nationalgardisten sorgten 1957 auch dafür, dass die afroamerikanischen „Little Rock-9“ trotz des Widerstands von weißen Rassisten in die Schule gehen konnten. Sie kamen später bei Unruhen in Los Angeles und bei Anti-Vietnam-Kriegsprotesten in Ohio zum Einsatz. Menschenrechtsorganisationen haben jetzt angekündigt, dass sie ihrerseits Konfliktbeobachter nach Ferguson entsenden werden.

Der Slogan „Hands Up – Don’t Shoot“ ist unterdessen landesweit zur Übersetzung der ungleichen Konfrontation zwischen schwerbewaffneten Polizisten und unbewaffneten Jugendlichen geworden. Weil Millionen afroamerikanische und hispanische Jugendliche aus vielfacher eigener Erfahrung das erniedrigende Gefühl kennen, der Polizei hilflos ausgeliefert zu sein, geht der Spruch mitsamt der Geste der erhobenen Hände derzeit durch das Land. Sowohl an der West- als auch an der Ostküste hat er in den vergangenen Tagen Demonstrationen begleitet.

In Ferguson hat unterdessen ein einzelner Polizist einen mutigen Schritt getan. Bei der Zeremonie für Michael Brown hatte sich der Polizist Ron Johnson für den Tod von Brown entschuldigt: „I am sorry.“ Er ist selbst Afroamerikaner und hat einen Sohn „mit Tätowierungen“. Johnson gehört zur State Highway Patrol.