: Moralphilosophische Akrobatik
PERFORMANCE Gar nicht so leicht zu sagen, was das ist: „Gefühlstraining für weltweite Körper“ verändert sich ständig und gibt viel Material zum Selberdenken auf den Weg
von Andreas Schnell
Am Anfang steht ein Buch. Eines, das Essay und Roman verbindet, und dabei zum Roman wird. Es heißt „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ und stammt von dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee, veröffentlicht 2007.
Es geht darin um einen älteren Schriftsteller namens C., der in Sydney lebt (wie Coetzee) und an einem Essayband arbeitet, in dem es um George W. Bush, Terrorismus, Guantanamo und derlei unschöne Dinge geht. Eine Nachbarin soll die Essays tippen, es entwickelt sich eine persönliche Beziehung zwischen Autor und Eingabehilfe oder wie man das nun nennen mag, ihr eifersüchtiger Freund findet das nicht so witzig – und all dies erfahren wir in einer auf drei Ebenen auch räumlich/drucktechnisch getrennten Erzählweise.
Davon findet sich oberflächlich wenig in dem Abend, der sich zumindest genealogisch auf Coetzees Werk beruft. „Gefühlstraining für weltweite Körper“ übernimmt Motive, Bruchstücke des Romans, aber auch anderer Texte, ist stets vorläufiges Resultat eines Prozesses, der mit internen Diskussionen, ebenso zu tun hat wie mit externen, aber auch mit dem „Trainingsraum“, der im Falle der Bremer Aufführung die Stauerei in der Überseestadt ist. Auf den allseits bekannten Trainingsmatten verläuft die zweite Ebene des Stücks – also, ja, dann doch ein bisschen wie bei Coetzee.
Davor, daneben, darüber der Text, gesprochen von Beatrice Fleischlin und Martin Clausen, die – wieder ein bisschen wie bei Coetzee – in ihrer Bühnenpräsenz immer wieder Verweise auf ihre private Identität unterbringen, oder das, was man dafür halten könnte. Und auch der Text, der sich im Gespräch, im Verlauf der Geschichte dieser Performance immer wieder erneuert, schreitet voran wie die Dreistimmigkeit Coetzees. Dritte Ebene hier: die Musik, komponiert und gespielt von Michael Emanuel Bauer und Georg Karger, gesungen von Jessica Gadani und immer wieder auch von allen.
Und was ist nun mit dem Training? Es wäre jedenfalls eine astreine Gelegenheit für ein Gedächtnistraining. Die Massen von Material, die ausgebreitet werden, bieten Unmengen von Stoff zum Denken, Weiterdenken. Was natürlich eine Stärke der Performance gegenüber einem Roman ist, sich weiter zu entwickeln, immer wieder neuen Stoff absorbieren zu können, wie es „Gefühlstraining für weltweite Körper“, das aufmerksame Bremer und Bremerinnen bereits im letzten Spätherbst im Werden begutachten durften, als die Truppe um Regisseur Andreas Liebmann in Bremen eine Arbeitseinheit absolvierte. Wie gesagt, Massen von Material, brisante Fragen, Tests, Diktate und daneben, darüber, dahinter: brisante Akrobatik, die immer wieder auch ein Scheitern ist. Ein Risiko. Wie dieser Abend, der aus dieser Form eindrucksvolle Prägnanz und Dichte gewonnen hat.
■ Samstag (heute), 20 Uhr, Stauerei